Autorinnen wehren sich auf Twitter gegen Kritiker, die sich mehr für ihr Aussehen interessieren als für ihre Literatur. Regisseurinnen kritisieren Journalisten, die ihre Leistung stets nur im Licht ihrer vermeintlich genialeren männlichen Kollegen zu würdigen wissen. Als Mann über Frauen schreiben, sie abbilden, gar beurteilen: Das ist in den vergangenen Jahren unbequem geworden. Zum Glück.
Selten mehr als ein Klischee
Denn wie Männer über Jahrhunderte hinweg Frauen zeigten – ob auf Theaterbühnen, in Gemälden oder als Romanfiguren –, reichte selten übers Klischee hinaus. Die Frau in der Kunst, das war meist eine Heilige oder aber eine Hure. Das Zerrissene, Widersprüchliche, Tiefe dagegen war stets Männern vorbehalten: Faust, Hamlet, Raskolnikow.
Zwar ist es vor allem dem Internet zu verdanken, wenn weiblicher Protest gegen solche Zuschreibungen heute eine breite Öffentlichkeit findet. Dass aber die männliche Deutungshoheit über das weibliche Wesen schon vor mehr als 100 Jahren zu bröckeln begann, zeigt jetzt eine kleine Ausstellung im Kunsthaus Zürich.
Es empfiehlt sich, als Ausgangspunkt dieser Entwicklung die technisch eindrucksvoll gestaltete Marmorskulptur „Das Morgengebet“ von Vincenzo Vela zu betrachten (auch wenn das der etwas unglücklich nach Kunstgattungen geordneten Abfolge widerspricht). Erschaffen 1865 zeigt sie uns den Inbegriff des männlichen Sehnsuchtsobjekts: ein zartes Mädchen mit schamhaft gesenktem Blick bei frommer Andacht, die Bibel noch in Händen haltend. Das Kleidchen rutscht nur zufällig halb von der rechten Schulter, eine Kette mit Kreuz ruht auf der blütenweißen Brust. Unschuld, Demut, Sittlichkeit.
Wie anders erscheint dagegen das Weibliche nur wenige Jahre später in Arnold Böcklins „Frühlingserwachen“! Zum Flötenspiel des bocksfüßigen und behörnten Hirtengotts Pan – das antike Vorbild für den später im Christentum entstandenen Teufels – erfreuen sich drei Musen am schönen Wetter. Und zwar ganz und gar nicht keusch oder voller Andacht, im Gegenteil. Den rechten Arm in die Hüfte gestemmt, blickt uns die Mittlere herausfordernd an, der Busen liegt blank, den Unterkörper verdeckt nur spärlich ein roter Rock (Farbe der verlorenen Unschuld!).
Die Auswirkungen der Frauenbewegung wie auch der Industrialisierung auf das männliche Selbstverständnis im beginnenden 20. Jahrhundert sind in der Geschichtsschreibung vielfältig beschrieben worden. In der Politik forderten plötzlich Frauen wie Rosa Luxemburg selbstbewusst ihre Rechte ein, so mancher Familienvater sah deshalb auch seine Vormachtstellung am heimischen Esstisch bedroht. Statt bei körperlich schweißtreibender Arbeit auf dem Feld saßen sie tagsüber nun in fahl beleuchteten Großstadtbüros: Viele kamen mit dieser Neubewertung ihrer Rolle in Familie und Staat nicht zurecht, flüchteten sich in übersteigerte Männlichkeitsideale und Tapferkeitsriten, die schon bald die Grundlage für eine fatale Kriegsbegeisterung darstellen sollten.
Muse ohne Muße
Bei Giorgio de Chirico zeigt sich diese Verunsicherung überdeutlich. „Die beunruhigenden Musen“ nennt der italienische Künstler 1917 seine Gestalten, die verloren in einer gespenstisch anmutenden Stadtszenerie herumstehen. Ihre Beinkleider erinnern an antike Säulen, statt des Kopfes aber erblickt der Betrachter nur einen absurden, keulenartigen Gegenstand. Sie sehen ein wenig aus wie Spielgeräte einer modernen Sportart, als habe der moderne Agonismus den klassischen Musen jede Muße ausgetrieben. Zugleich ragen hinten wie Mahnmale des industriellen Wandels zwei Fabrikschornsteine in den Himmel. Eine wahrhaft beunruhigend veränderte Wirklichkeit.
Klammernde Hände
Salvador Dalí zeigt 1935 eine grazile „Frau mit Rosenkopf“: verzweifelt um diverse Körperteile klammernde Hände kennzeichnen sie als Objekt der Begierde. Doch ihre schwarze, erstaunlich groß geratene rechte Hand lässt vermuten, dass diese Frau durchaus zu Gegenwehr in der Lage ist.
Alberto Giacometti baut 1960 seine „große Frau“ schier bis unter die Decke. Unnahbar blickt sie über uns hinweg, schattenhaft in ihrer schmalen Gestalt und doch alles überragend. Ob bei de Chirico, Dalí oder Giacometti: Der männliche Blick verleiht diesem weiblichen Wesen, das sich plötzlich mit der so lange zugeschriebenen madonnenhaften Sittsamkeit nicht mehr zufrieden geben will, Dämonisches, ja Bedrohliches.
Wie gut, dass es da auch noch eine Musendarstellung aus weiblicher Perspektive gibt. Erschaffen hat sie Rebecca Warren im Jahr 2006. Sie erinnert an eine im beständigen Ringen mit fremden Zuschreibungen und Erwartungen bis zur Unkenntlichkeit verknotete Gestalt: Man kann das so in Form gegossene Empfinden nachvollziehen.
Bis 22. September im Kunsthaus Zürich. Weitere Informationen: http://www.kunsthaus.http://ch