Will ich ein Kind? Wann will ich ein Kind? Und mit wem? In einer liberalen Gesellschaft dürfen wir das ganz allein entscheiden, ja müssen es sogar. Das Versprechen hinter dieser errungenen Freiheit lautet: Wenn die Menschen ihren eigenen Sehnsüchten und Überzeugungen folgen dürfen, werden sie auch bereit sein, füreinander Verantwortung zu übernehmen. Selbsterfüllung als Keimzelle für echte, tief empfundene Solidarität.
Zielstrebig, selbstbewusst
Wie es um die Einlösung dieses Versprechens bestellt ist, zeigt jetzt ein neuer Roman, dessen Sujet auf den ersten Blick wie ein feministischer Lobpreis unserer emanzipierten Lebensrealität anmutet: Frau macht trotz Schwangerschaft weiter Karriere und pfeift dabei auf die Erwartungen der Gesellschaft. Von einer „souverän handelnden Frau“ ist im Klapptentext zu Andrea Grills „Cherubino“ die Rede: „zielstrebig, selbstbewusst.“
Hauptfigur ist eine Opernsängerin, und diesem Künstlertypus so nahe wie möglich zu kommen, war der Autorin ein erkennbares Anliegen. Zur Recherche hat sie Gespräche mit berühmten Sängerinnen wie Angelika Kirchschlager und Stephanie Houtzeel geführt. „Cherubino“ ist somit auch ein Blick hinter die Kulissen: Wie sieht eigentlich so ein Leben aus, wenn man heute noch auf der Bregenzer Seebühne Rigoletto singt und morgen schon die Zauberflöte an der New Yorker Met?
Zielstrebig, selbstbewusst muss man dafür mindestens sein. Vielleicht sogar: rücksichtslos, egoistisch. Andrea Grills Opernsängerin Iris Schiffer jedenfalls offenbart früh Abgründe. So verkauft sie es ihrem Lebensgefährten, dem Tenor Sergio, als Gewissheit, dass er sich bald über einen Sohn freuen darf. Dabei hält sie es für wahrscheinlicher, dass ihr Kind der heimlichen Affäre mit einem hochrangigen Politiker entstammt.
Betrogene Familie
Dessen betrogene Familie kümmert sie offenbar ebenso wenig wie die naive Ahnungslosigkeit ihres treuen Partners. Die Figuren um sie herum gelten ihr nicht als Gemeinschaft, für die es eine moralische Verantwortung zu übernehmen gälte. Sie sind vielmehr Werkzeuge zur eigenen Glückserfüllung. Ein Mann fürs Abenteuer, einer als sichere Bank, und die Agentin liefert dazu den beruflichen Erfolg. Ein Leben unter dem Diktat des „Ich, Ich, Ich“.
Doch so wenig sympathisch die narzisstisch veranlagte Diva uns auch erscheint, beim übrigen Personal sieht es kaum besser aus. Ludwig, das hohe Tier aus der Politik, beeilt sich, jegliche Verantwortung für das mutmaßlich von ihm gezeugte Kind abzuwehren. Und als Sergio zwischenzeitlich von Iris eiskalt abserviert wird, kämpft er um sie in Manier eines Stalkers: mit nächtlichen Brüllattacken im Treppenhaus und Dauerbelästigung am Telefon. Narzissmus ist nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall in dieser Welt der Selbstverwirklicher.
Verräterische Logik
In ihrer selbsterwählten Einsamkeit treffen Grills Figuren Aussagen von verräterischer Logik. Etwa, wenn Iris die ungeklärte Vaterschaft zum „coolen Problem“ verklärt und sich darüber freut, dass das Erbe der Moderne ihr Sentimentalitäten erspare. Nur um wenig später die Hoffnung zu äußern, dass doch „wenigstens der Kuckucksvater“ hinter ihr stehen möge – so dreist muss man erst mal denken.
Die Wahrheit ist, dass hier niemand mehr hinter irgend jemandem zu stehen bereit ist. Nicht im Privaten und nicht in der Kunst. Will Iris ihre Opernlaufbahn nicht gefährden, muss sie neben ihren Männern auch Regisseure und Intendanten belügen. Schwangerschaft und Mutterschaft, das bedeutet auf der Bühne allen Lippenbekenntnissen zum Trotz nämlich noch immer den Karriereknick. Und so heißt es singen, bis sich der Bauch nicht mehr verstecken lässt: immer weiter auf dem Weg zur vollkommenen Selbstoptimierung.

Wir gehen auf diesem Weg täglich über Leichen, spielen uns derweil bei vergleichsweise unbedeutenden Sprechgewohnheiten oder Kaufentscheidungen zu wahren Moralaposteln auf. Weil sie ihrem Kind nicht erklären will, warum sie ein iPhone benutzt, das doch für Ausbeutung und Umweltverschmutzung steht, schafft Iris sich ein sogenanntes „FairPhone“ an: ein Feigenblatt in einem Leben, das ansonsten von Fairness eher wenig übrig hat. Rettung aus diesem kollektiven Egotrip ist nur in der Liebe zu finden. In jenem Ding also, das Iris als „Bullshit“ abtut, der auf Opernbühnen gehöre, gerade weil er im echten Leben nicht zu finden sei. Wenn sie sich da mal nicht irrt.
Ungeahnte Krisen
Indem Grill vom Tag des Schwangerschaftstests an jede körperliche Veränderung und jeden Arztbesuch detailliert beschreibt, lässt sie ihren Leser an einer körperlich-seelischen Entwicklung teilhaben. Die so sehr auf Coolness bedachte Sängerin erfährt ungeahnte Krisen, Zweifel, Angstzustände. Und je mehr sie von ihrem Kind weiß, desto entschlossener ist sie bereit, es anzunehmen.
Verlogenheit des Kunstbetriebs
Das alles gipfelt in dem schönen Bekenntnis: „Ich würde alles tun für dich!“ Da ist es plötzlich, das Verantwortungsbewusstsein, ja die Liebe.
Der Name Cherubino bezeichnet eine der schillerndsten Figuren der Opernliteratur, einen von Sehnsüchten zerrissenen Jüngling in Mozarts „Hochzeit des Figaro“. Iris beschert diese sogenannte Hosenrolle den internationalen Durchbruch. Aber natürlich spiegelt sich in ihr auch die Ambivalenz des gleichermaßen nach Unabhängigkeit wie Zuneigung dürstenden Individuums. Und nicht zuletzt die Verlogenheit eines Kunstbetriebs, der von Liebe und hehren Werten singen lässt, selbst aber Eigensucht und Rücksichtslosigkeit befördert.
Eine Ahnung von den Herausforderungen
Die Autorin selbst lässt uns – anders als der Klappentext nahe legt – als allwissende Erzählerin im Unklaren, wie sie zu ihren Figuren steht. Genau das macht den Reiz dieser Lektüre aus. Wie immer man zu den Entscheidungen ihrer Heldin stehen mag: „Cherubino“ vermittelt eine Ahnung von den Herausforderungen eines Lebens für den Bühnenbetrieb: eine Szene, in der die Selbstoptimierungstendenzen unserer Zeit auf die Spitze getrieben werden.
Andrea Grill: „Cherubino“, Roman, Zsolnay Verlag 2019: 320 Seiten, 23 Euro.