Umfragen zufolge glauben etwa 17 Prozent der Deutschen, dass die Anschläge auf das World Trade Center 2001 von der CIA durchgeführt wurden, um eine Rechtfertigung für den nächsten Krieg zu schaffen. Mehr als 10 000 Bürger halten die Bundesrepublik Deutschland nicht für einen Staat, sondern für eine „GmbH“, manche ziehen daraus den Schluss, „sich wehren“ zu müssen. Und ein halbes Jahrhundert nach der Mondlandung im Juli 1969 glauben nach wie vor viele Menschen, dass die ganze Aktion gar nicht stattgefunden hat, sondern ein „Fake“ war, inszeniert in den Filmstudios von Hollywood.
„Verschwörungstheorien“ sind en vogue. Ihre Faszination dürfte sich ganz einfach erklären: Der Gedanke, dass irgendjemand uns die „Wahrheit“ böswillig vorenthält, gibt „bessere“, weil spannendere Geschichten ab als die nüchterne Realität. Der Physiker Holm Gero Hümmler, der seit zwei Jahrzehnten an der Untersuchung von sogenannten „Parawissenschaften“ arbeitet, hat jetzt ein Buch mit naturwissenschaftlichen Informationen zu den gängigsten „Verschwörungstheorien“ unserer Zeit zusammengestellt.
Zum Beispiel die „flache Erde“. Angeblich zückt der Sänger Xavier Naidoo im Gespräch mit Freunden gern ein Lineal, hält es aus dem Fenster und stellt dann fest, am Horizont sei auch nicht der Ansatz einer Krümmung zu sehen. Hümmler hat sich die Mühe gemacht auszurechnen, wie groß die gesuchte Krümmung bei einem Erdumfang von 40 000 Kilometer eigentlich sein müsste. Nehmen wir an, am Horizont ist in fünf Kilometer Entfernung eine Strecke von 2,5 Kilometern zu überblicken. Dann müsste der Horizont in der Mitte gerade mal 0,015 Millimeter höher sein als an den Enden. Kein Wunder, dass Naidoo nichts entdecken konnte.
Oder die Mondlandung 1969. Nach Meinung von Verschwörungstheoretikern wurde sie in den Hollywood-Studios „gefaked“. Beweis: Auf dem Mond kann die amerikanische Flagge mangels Atmosphäre nicht geflattert haben. Wind war aber auch gar nicht nötig, antwortet Hümmler: Die Flagge wurde unvermeidlich in Bewegung gesetzt, als die Astronauten das Halterohr in den Fuß einsetzten. Die geringere Schwerkraft auf dem Mond und der fehlende Luftwiderstand bewirkten, dass sie danach länger in Bewegung blieb, als sie das auf der Erde bei Windstille getan hätte.
Andere Verschwörungstheorien lassen sich nicht naturwissenschaftlich erörtern, man müsste historische Dokumente heranziehen. Auf die in rechtsextremistischen Kreisen beliebte Behauptung, der Holocaust an sechs Millionen Juden hätte nicht stattgefunden, geht Hümmler nicht ein.
„Neu-Schwabenland“
Er nennt als Beispiel die Nazi-Kolonie „Neu-Schwabenland“, die Ende der 1930er Jahre angeblich in der Antarktis eingerichtet wurde. Am Ende des Zweiten Weltkriegs soll Adolf Hitler dorthin geflohen sein. Entdeckt wurde von einem antarktischen Obersalzberg jedoch niemals etwas.

Offenbar bietet das Internet den Verschwörungstheorien einen besseren Nährboden, als es die gedruckten Medien früher taten. Vor gut einem halben Jahrhundert entwickelte der kanadische Philosoph Marshall McLuhan den Gedanken, die elektronischen Medien könnten so etwas wie ein „globales Dorf“ schaffen. McLuhan warnte damals bereits vor den Gefahren für das individuelle Denken, die daraus erwachsen könnten. In welchem Ausmaß sich das globale Dorf inzwischen als ein „globaler Stammtisch“ erwiesen hat, konnte er nicht ahnen.
„Wie man sich nicht aufs Glatteis führen lässt“, hat Hümmerl das Schlusskapitel seines Buches überschrieben. Aber dieser Anspruch ist vielleicht ein bisschen zu hoch gesteckt. Der Band bietet Argumentationshilfen, wenn es um die gängigen Verschwörungstheorien von heute geht. Aber wenn neue „Theorien“ auftreten, stellt sich die Aufgabe zu überprüfen, ob der unterstellte Sachverhalt überhaupt möglich oder wahrscheinlich ist, jedes Mal aufs Neue.
Verlass auf Experten
Und nicht jeder von uns ist in Naturwissenschaften so firm, dass er auf Verschwörungstheorien spontan antworten könnte. Oft wird man sich auf Experten verlassen müssen. Aber: „Immer mehr Laien verfallen in eine anti-intellektuelle Selbstherrlichkeit“, vermerkt der Berliner Philosoph Jan Skudlarek in seiner neuen Studie über „Wahrheit und Verschwörung“.
Misstrauen gegen Intellektuelle
Beispiel „Klimawandel“: Dass eine ziemlich große Mehrheit von Forschern, die sich mit dem Thema befasst haben, die industrielle Entwicklung der letzten zweieinhalb Jahrhunderte für einen ganz wesentlichen Faktor hält, beeindruckt nicht weiter. Es gibt allerdings einen wichtigen Unterschied gegenüber dem alten Irrationalismus, wie wir ihn gerade in der deutschen Tradition so oft finden: Das aktuelle Misstrauen richtet sich nicht gegen die Vernunft selbst, sondern gegen die „Intellektuellen“ als soziale Gruppe, nämlich gegen Wissenschaftler und Journalisten, die als Sachwalter und Vermittler von Wissen auftreten. Sie könnten sich mit den Vertretern von Politik und Wirtschaft verschworen haben.

Skudlarek hält dagegen: Nach aller Erfahrung begünstigt der Wissenschaftsbetrieb mit seinem System formaler Qualifikationen, dass sich wahre Behauptungen, zutreffende „Weltbeschreibungsangebote“ durchsetzen. „Bildung hilft gegen Verschwörungstheorien“, schreibt Skudlarek. Die Möglichkeit, dass wir die Wahrheit selbst herausfinden, ist freilich nicht immer gegeben. Deshalb: „Die Gesellschaft beruht auf einem Vertrauen-Müssen. Ohne einen Vertrauensvorschuss funktioniert eine komplexe menschliche Gesellschaft wie die unsrige schlichtweg nicht.“
Skudlarek empfiehlt eine Regelvermutung, zumindest für die meisten Fälle: „Der Mainstream hat Recht.“ Seine Begründung: „In freiheitlichen Gesellschaften verkörpert der Mainstream in der Regel eine beachtliche Schwarmintelligenz.“ Verschwörungstheoretiker dagegen sind „Möchtegernrebellen“, schreibt Skudlarek.
Des eigenen Verstandes bedienen
Andererseits: „Schwärme“ können sich irren, vielleicht unterschätzt der Verfasser auch die soziale Kraft, die Moden entfalten können. „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, heißt es in Immanuel Kants Schrift „Was ist Aufklärung?“ – das Wort „eigen“ ist durch Sperrung hervorgehoben.
Holm Gero Hümmler: Verschwörungsmythen. Wie wir mit verdrehten Fakten für dumm verkauft werden, S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2019, 223 Seiten.
Jan Skudlarek: Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist, Philipp Reclam jun., Ditzingen 2019, 208 Seiten.