Aby Warburg hat der Menschheit die Ikonografie geschenkt. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass wir seither mehr mit Bildern sprechen statt mit Worten. So jedenfalls heißt es in Gerd Zahners neuem Stück „Aby Warburg – Gespräche mit einem Nachtfalter“, das jetzt am Theater Konstanz seine Uraufführung feierte.
Die Definition, in den Mund gelegt dem Psychiater Ludwig Binswanger, mag etwas schlicht sein. Sie führt aber in den Kern der Geschichte um den berühmten Kulturwissenschaftler Warburg, der 1921 mit der Diganose Schizophrenie in das Kreuzlinger Sanatorium Bellevue eingeliefert worden ist. Denn Bilder sind es, die ihn hierher geführt haben: Bilder der menschlichen Kultur, vor allem aber Bilder von ihrer Zerstörung im Ersten Weltkrieg. Warburg soll gefürchtet haben, dass in einem zweiten Krieg alle Juden umgebracht werden und damit seine ganze Familie. Das galt damals als Ausweis einer handfesten Psychose – heute lässt uns diese prophetisch anmutende Sicht erschauern.
Es steckt eine hohe Bühnenwirksamkeit in diesem Vorgang: Da versucht ein Arzt, seinen Patienten von einer Wahnvorstellung zu befreien, die der Wirklichkeit näher kommt als die Weltsicht des Arztes selbst. Zahner steckt die beiden in einen aseptischen Raum, die Uraufführung findet zwischen weiß gekalkten Wänden irgendwo im Kreuzlinger Schiesser-Areal statt. Warburg (Julian Härtner) läuft hier zwischen vollgemalten Plexiglas-Elementen (Bühne: Elena Bulochnikova) wie ein Tiger im Kreis, hadert mit seinen Träumen: Als Zauberer sieht er sich in ihnen, bloß dass er statt eines Kaninchens Schlangen aus dem Hut hervorzieht. Schlangen aber sind Wesen mit ikonografischem Symbolgehalt. Die Urvölker sehen sie als Zeichen des Blitzes. Der Blitz wiederum kündigt den Regen an. Und der Regen schließlich lässt das Land erblühen: Regen bringt Segen.
Wie er davon erzählt, erfüllt auch schon gewaltiges Dröhnen den Raum, als wäre eine Maschine angesprungen. Eine Maschine im Kopf, die Bilder des Krieges produziert: Der Blitz nämlich kündigt nicht nur Regen und Segen an, sondern auch Krieg und Zerstörung. Ein Bild kann kippen, seine Bedeutung ins Gegenteil umschlagen. „Der Krieg ist seit drei Jahren vorbei“, versucht Psychiater Ludwig Binswanger (Georg Melich) seinen Patienten zu beruhigen: „Der Siegeszug der Demokratie in aller Welt garantiert, dass ein Krieg nie wieder so ausbrechen kann!“ Glaubt er das wirklich selbst?
Das Publikum sitzt ganz nah dran, gerade mal 30 Zuschauer passen in den Raum. Sie sehen einen Arzt, der mit dem Optimismus eines kulturgläubigen Humanisten gegen die Schreckensvisionen seines Patienten anargumentiert. Und sie erkennen, wie dieser Optimismus immer mehr ins Wanken gerät. Bald lässt sich kaum mehr unterscheiden: Was ist Wahn, was Wahrheit? Und wer ist hier der Arzt, wer der Patient?
50 000 Zeitungsausschnitte habe er zum Krieg gesammelt, sagt Warburg: „Ich wollte die Kontrolle zurück, den Krieg ordnen.“ Binswanger schöpft bei dieser Information gleich Hoffnung, wittert einen neuen Behandlungsansatz. Vielleicht sei es ja genau das, was ihn so sehr belaste, schlägt er vor: „Sie können zwar das große Ganze erklären, aber nicht das Detail!“ Mag sein, antwortet Warburg. Aber genau darin, die Welt aus ihren Details heraus zu deuten, bestehe nun mal das Wesen eines Kulturwissenschaftlers: Das werde ihm der Arzt hoffentlich nicht ausreden wollen.
So mündet, was als Therapie begonnen hat, nach und nach in ein Duell. Als der Arzt es zu verlieren droht, springt ihm seine Pflegerin (Anny De Silva) mit rührend naiven Argumenten zur Seite. Es sei so schön hier in Kreuzlingen mit dem Blick auf See und Berge, mit all den Massagen und Bädern: Da müsse der Herr Warburg doch irgendwann mal zur Vernunft kommen! Und dann wieder die dunkle Ahnung, dass die Rollen hier grundsätzlich falsch verteilt sind. „Wenn es wahr wird, was er sagt“, denkt sie laut: „Gilt er dann eigentlich als gesund?“
Es sind mehrere glückliche Fügungen, die aus dieser etwa eine Stunde dauernden Begegnung einen über weite Strecken interessanten Theaterabend machen. Zum einen ist es natürlich ein Text, der diesem zunächst ja eher statisch anmutenden Psychiatrie-Aufenthalt eine theatrale Dynamik abringt. Zum anderen sind es Schauspieler, die diese Dynamik aus ihren Figuren heraus zu erklären verstehen: Melichs Psychiater Ludwig Binswanger ist ein vom Glauben an die menschliche Kultur getriebener Mann. Dass er ausgerechnet in der Auseinandersetzung mit einem Kulturhistoriker eine starke Prüfung dieses Glaubens erleben muss, ist die bittere Ironie des Schicksals. Und Julian Härtner zeichnet Aby Warburg als einen Vernunftsmenschen, der vergeblich in der wissenschaftlichen Ordnung Antworten auf die Fragen seiner Zeit zu finden versucht. Über seine psychische Ausnahmesituation ist sich dieser Patient stets im Klaren, er schwankt zwischen Hoffnungslosigkeit und Zynismus: eine großartige darstellerische Leistung. Auch Anny De Silva kann als zunehmend genervt auftretende Pflegerin überzeugen.
Regisseur Oliver Vorwerk hat mit seiner Setzung im sterilen, fahl beleuchteten Industrieraum ein gleichermaßen intimes, wie verstörendes Umfeld geschaffen. Allein, warum das Publikum im Verlaufe des Stücks die Stühle rücken muss, um das Geschehen mal vom Nahen, mal von Weitem zu verfolgen, wird nicht ganz klar.
Für Warburg wie für Binswanger gibt es am Ende eine gute Nachricht. Erst entpuppt sich die Krankheit statt der anfangs vermuteten Schizophrenie als „manisch-depressiver Mischzustand“. Dann bringt Binswanger seinen Patienten dazu, endlich mal wieder einen Vortrag zu halten. Schon bald gilt Warburg als geheilt. Zu Recht? Darauf darf sich das Publikum seinen eigenen Reim machen.
Die Figur
Aby Warburg (1866-1929) stammte aus einer Hamburger Bankiersfamilie. Als erstes von sieben Kindern hätte er Anspruch auf die Übernahme des Familienunternehmens erheben können. Er trat jedoch sein Erstgeborenenrecht an seinen Bruder ab – gegen die Bedingung, dass die Familie ihm zeitlebens alle Bücher beschaffe, die er lesen möchte. Nach einem Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Archäologie stieg Warburg zu einem der bedeutendsten Kulturwissenschaftler Deutschlands auf. Bekannt wurde er insbesondere durch die Begründung der Ikonografie als wissenschaftliche Methode der Kunstgeschichte. Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieg erlitt Warburg in eine psychische Krise. Nachdem er drohte, sich und seine Familie umzubringen, wurde er 1921 in das Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen eingeliefert. (brg)