Dass Gewalt weitere Gewalt nach sich zieht, bestätigen die Nachrichten täglich. In der antiken Sagenwelt ist es die Sippe der Atriden, deren Geschichte Aischylos als eine von Mord und Rache fast bis zur totalen Auslöschung erzählt hat.

Für den Kriegserfolg ist König Agamemnon zur Opferung seiner Tochter Iphigenie bereit, woraufhin er von seiner Frau Klytemnästra getötet wird, deren Sohn Orest wiederum den Vater rächt. Euripides hat das Schlusskapitel des blutigen Dramas neu geschrieben, indem er Orest und die totgeglaubte Iphigenie auf der Insel Tauris zusammenkommen ließ, wo Iphigenie als Priesterin den Eindringling Orest opfern müsste. Sie widersetzt sich, die Spirale der Gewalt wird unterbrochen.

Innere Kämpfe

In seiner vorletzten Oper „Iphigenie auf Tauris“ hat Christoph Willibald Gluck die inneren Kämpfe von Iphigenie und Orest, ihre Verzweiflung wie ihre Hoffnung auf geniale Weise in Musik umgesetzt. Dabei durchdringen sich beständig Realität und Traum, bricht die Erinnerung in die Gegenwart ein. Die Protagonisten werden von Furien heimgesucht – so wird Orest an das Trauma des Muttermords erinnert, das ihn fast in den Wahnsinn treibt.

Für die Neuinszenierung der Oper, die vor 13 Jahren in Paris Premiere hatte, hat der polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski in Stuttgart die Bühne durch eine Plexiglaswand in zwei Räume geteilt. Traum und Handlung, Außen- und Innenwelt lassen sich so bildmächtig verschränken, wobei eine Art Seniorenresidenz den Rahmen bildet, in der die greise Iphigenie das Geschehen quasi als Flashback nacherlebt.

Die doppelte Iphigenie: Schauspielerin Renate Jett (links) und Sängerin Amanda Majeski.
Die doppelte Iphigenie: Schauspielerin Renate Jett (links) und Sängerin Amanda Majeski. | Bild: Martin Sigmund

Dass die neun alten Damen, die ihr dabei als stumme Rollen Gesellschaft leisten, persönlich traumatische Erfahrungen von Krieg und Vertreibung haben, lässt sich allerdings nur dem Programmheft entnehmen. Szenisch vermittelt sich das nicht, was aber auch keine Rolle spielt, werden sie doch von der Regie klug eingebunden in ein einnehmendes Spiel mit Perspektiven.

Dass die Inszenierung bei der Premiere bejubelt wurde, liegt auch an der großartigen musikalischen Umsetzung. Wann hat man das Staatsorchester derart farbenreich gestaltend und nuancenreich phrasierend gehört wie hier? Stefano Montanari am Pult arbeitet die dramatische Wucht dieser Partitur ebenso heraus wie ihre Feinheiten.

Starke Produktion

Die Sängerriege genügt höchsten Ansprüchen: allen voran Amanda Majeski, als Iphigenie eine veritable Tragödin mit einem Sopran aus Stahl und Seide. Jarrett Ott (Orest), Elmar Gilbertsson (Pylades) und Gezim Myshketa (Thoas) stehen ihr nicht nach. Dass Letzterer effektvoll gemeuchelt wurde – ebenso geschenkt wie die Videoeinspielungen im letzten Akt. Dennoch vielleicht die stärkste Produktion der Spielzeit.

Weitere Aufführungen von "Iphigenie auf Tauris" gibt es am 2., 5., 10., 12., 14., 19. und 30. Mai 2019. Alle Informationen dazu finden Sie hier.