Jeremias Heppeler

Hip-Hop dominiert die Popkultur im deutsch- und englischsprachigen Raum derzeit mit einer Dominanz, wie es sie bislang noch nie gegeben hat. Ästhetik, Musik, Mode, Sprache, Internet. Hip-Hop ist überall. Hip-Hop ist im Mainstream nicht nur angekommen – Hip-Hop definiert den Mainstream.

Der Berliner Rapper Capital Bra schickt sich dieser Tage an, Uralt-Rekorde von Abba und den Beatles zu knacken, in kürzester Zeit jagte er Single nach Single auf den Thron der Charts.

Zwischen Genie und Wahnsinn

Der Rap-Star pendelt zwischen Genie und Wahnsinn (er hat dafür sogar das Alter Ego Joker Bra erschaffen), ballert Song nach Song in den digitalen Äther und prägte einen von Autotune und poppigen Beats dominierten Plastik-Trapsound, der speziell beim jungen Publikum zwischen zwölf und 18 Jahren ungeahnte Euphoriewellen auslöst.

Jedoch: Capital Bras Musik und Erfolg werden innerhalb der Szene aufs Heftigste diskutiert. Ja, wenn man so will, spaltet „der Bratan“ die Hip-Hop-Expertenwelt momentan in zwei altbekannte Lager. Sie nennen sich Oldschooler und Newschooler.

Kaugummi-Sound oder Rückständigkeit

Die einen, die Altmodischen, warnen im Angesicht von zunehmender Sinnentleerung und Kaugummi-Sound vor einer drohenden Hip-Hop-Apokalypse. Die anderen werfen den Kritikern ewige Gestrigkeit und anhaltende Rückständigkeit vor und feiern die neuen, grenzenlosen Möglichkeiten des Genres.

Interessanterweise ist die Diskussion genauso alt wie das Genre selbst. Im Buch „Könnt ihr uns hören? Eine Oral History des deutschen Rap“ zeichnen Jan Wehn und Davide Bortot beinahe spielerisch den Weg des deutschsprachigen Hip-Hop von der Existenz als Kleinsterscheinung unter Nerds bis hin zur dominierenden Kulturform nach.

Davide Bortot und Jan Wehn haben das Buch "Könnt ihr uns hören? Eine Oral History des deutschen Rap" geschrieben (Ullstein fünf, 464 ...
Davide Bortot und Jan Wehn haben das Buch "Könnt ihr uns hören? Eine Oral History des deutschen Rap" geschrieben (Ullstein fünf, 464 Seiten, 20 Euro). | Bild: Ullstein fünf

Und sie offenbaren, dass der Streit zwischen Alteingesessenen und Newcomern bereits aufbrandete, als kaum einer wusste, was Hip-Hop überhaupt ist. Wehn und Bortot haben unzählige Interviews mit Rappern, Journalisten, Managern und Medienmachern geführt, lassen diese Protagonisten erzählen und setzen daraus für den Leser ein nachvollziehbares und konkretes Bild zusammen.

Daraufhin offenbart sich ein faszinierendes System der stetigen Abgrenzung zwischen den unterschiedlichen Hip-Hop-Generationen.

In Heidelberg fing alles an

Alles beginnt, so erzählt es der allgemein gültige Gründungsmythos, in Heidelberg. Hier wird der Deutsch-Haitianer Frederik Hahn zu Torch, zum Fackelträger, der das Feuer entdeckt und bändigt. Torch gilt als Urvater, aber eben auch als Hip-Hop-konservativer Gralswärter der ersten Stunde.

Die Heidelberger, die auf Jams in ganz Deutschland priesterhaftes Ansehen genießen, stellen mit Blick auf die USA erste Regeln auf, wie sich der deutsche Hip-Hopper zu benehmen hat. Hip-Hop ist zu diesem Zeitpunkt, wir sprechen vom Anfang der 90er-Jahre, ein belächeltes Randphänomen, das sich durch ungeheure Ernsthaftigkeit nach Innen absichern will.

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Kurz darauf erfolgt der erste große Verrat: Die Fantastischen Vier reifen von Stuttgart aus zum Pop-Phänomen und verkörpern alles, was die Heidelberger Veteranen verabscheuen. Leichtigkeit, Eingängigkeit, spaßige Texte, Ohrwürmer, die in massiven Charts-Erfolgen münden.

Sofort rauscht böses Blut durch die Adern der Szene und viele Aussagen und Ansichten von damals ließen sich eins zu eins auf die gegenwärtige Diskussion ummünzen. Angegriffene Platzhirsche fühlen sich provoziert, plustern sich auf, grenzen sich ab, die neuen Herausforderer reagieren mit Schulterzucken und Ignoranz.

Die Fantastischen Vier (von links) Im Jahr 2004: Michi Beck, Smudo, Thomas D und And.Ypsilon.
Die Fantastischen Vier (von links) Im Jahr 2004: Michi Beck, Smudo, Thomas D und And.Ypsilon. | Bild: Jörg Carstensen / dpa

Diese Geschichte wiederholt sich im Deutschrap in flachen Kreisen. Immer und immer wieder – und oft als territoriales Phänomen. Anfang der 2000er prescht Hamburg in Form der Absoluten Beginner und Samy Deluxe auf die Karte, wenige Jahre später folgt der große Knall: Gangster- und Straßenrap schwappt von Berlin aus über die Deutschlandkarte und walzt alles nieder.

Aggro Berlin. Bushido. Sido. Nach ihnen die Sintflut. Erst gegen 2010 öffnet sich die Szene wieder, alternative Rapper wie Casper und Marteria kommen dazu. „Könnt ihr uns hören?“ zeichnet diese Revolutions-Tsunamis anschaulich, prägnant und unterhaltsam nach – inklusive aller Vor- und Nachbeben.

Mit Rappern wie Bushido kam der Gangster-Rap nach Deutschland.
Mit Rappern wie Bushido kam der Gangster-Rap nach Deutschland. | Bild: Ennio Leanza / EPA

Warum aber ist die Geschichte des Hip-Hop eine Geschichte der Grabenkämpfe? Klar, jede neue Generation muss sich von der vorangegangen Elterngeneration abgrenzen. Das gehört zu Pubertät und Erwachsenwerden.

Wir schneiden unsere Haare anders, wir tragen andere Klamotten, wir hören andere Musik. Es gilt die Faustregel: Identität durch Identifikation (mit Musikern, Szenen und Vorbildern) und durch Abgrenzung (vom Alten und Angestaubten).

Konflikte dauern über Generationen an

Während andere Jugendkulturen und Musikrichtungen aber eine gewisse Statik, ja einen roten Faden aufweisen, ist Hip-Hop die einzige Kultur, die diese Kämpfe innerszenisch ausfechtet. Das ist bemerkenswert – aber vermutlich der Grund, warum Hip-Hop heute alleine an der Spitze steht.

Nur durch diese anhaltenden Gefechte, Provokationen und Generationskonflikte innerhalb der Kultur selbst scheint anhaltendes Wachstum garantiert. Nur wenn die Alten die Jungen rotzfrech, ungebildet und saublöd finden und die Jungen die Alten im Gegenzug als uncool brandmarken, kann Reibung entstehen, die alle Beteiligten zu Höchstleistungen antreibt und die Wurzeln in alle Richtungen schlägt.

Das Prinzip der Schlangenhäutung

So drängt sich das Bild einer Schlangenhäutung auf: Wer größer werden will, muss die alte Haut loswerden – wie schmerzhaft das auch sein mag. Zum Glück entwickeln diese abgestreiften Häute im Hip-Hop oft ein Eigenleben: 2019 sind die Fantastischen Vier, die Absoluten Beginner, Sido, Casper, Marteria und auch Capital Bra erfolgreiche Teile einer übergeordneten Szene.

Nur Torch hat nach seinem Überalbum „Blauer Samt“ nie wieder ein abgeschlossenes Werk veröffentlicht.