Als der Rapper Rin im vergangenen Jahr mit der 1Live-Krone für das beste Album ausgezeichnet wurde, einem durchaus gewichtigen Publikumspreis, hatte er dazu nicht viel zu sagen. Eine Botschaft wollte er aber doch los werden: „Shoutout an Bietigheim 74321. Das geht an alle Kids, wo die Eltern immer sagen: Ihr seid faul! Macht euer Ding, seid ihr selbst. Und gute Musik muss nicht immer aus der Großstadt kommen.“ Im Moment der größten Anerkennung dachte Rin an seine Heimat. Bietigheim-Bissingen. Die Stadt hat 42.000 Einwohner. Darunter sind gleich drei Rap-Superstars – eine einzigartige Quote. Denn neben dem deutschlandweit gefeierten Newcomer Rin stammen auch Bausa, der mit „Was du Liebe nennst“ den wohl größten deutschsprachigen Hit des vergangenen Jahres geliefert hat, und Shindy, dessen erste drei Alben die Spitze der Charts erklommen haben, aus der Stadt nördlich von Stuttgart. Zieht man den Radius ein wenig größer, scheint sich ein Muster abzuzeichnen: Denn mit Cro (Aalen) und Nimo (Leonberg) stammen zwei weitere Hip-Hop-Stars aus der vermeintlichen Provinz. Wie kann das sein?
Bei der Spurensuche hilft uns eine echte Expertin: Dani Fromm, Hip-Hop-Fachfrau des am Bodensee ansässigen Musik-Magazins „Laut.de“, die sich in der Vergangenheit schon mit so manchem Hip-Hop-Superstar verbal duelliert hat. „Wo es wenig bis nichts gibt, ist der Zwang zum Selbermachen halt deutlich größer. Während man in Berlin als Rap-interessierter Mensch einfach konsumieren gehen kann, sind die Möglichkeiten dazu in einer Kleinstadt oder auf dem platten Land deutlich dünner gesät. Leute, die in der Provinz im Kinderzimmer vor sich hin frickeln, hat es schon immer gegeben. Die Chancen, mit den Ergebnissen ein Publikum zu erreichen, haben sich in Zeiten digitaler Vernetzung allerdings potenziert. Die früher unabdingbaren klassischen Musikbusiness-Strukturen braucht heute ja im Grunde kein Mensch mehr, um Horden von Followern zu bedienen.“ An dieser Stelle spricht Fromm einen ganz entscheidenden Punkt an: die massive Transformation der Vertriebs- und Vernetzungsstrukturen im Zuge der digitalen Revolution.
Bis vor wenigen Jahren war es für Musiker mit einem Plattenvertrag zwingend notwendig, vor Ort zu sein, das heißt: allzeit greifbar für die in den Großstädten agierenden Musik-Labels. Für Werbung. Für Foto-Shootings. Und für die kreative Arbeit. Letztere kann der Nachwuchs-Musiker heute auf professionellem Niveau im Wohnzimmer kreieren – und trotzdem via Instagram in Dauerkontakt zu seinen Anhängern stehen. So kann man bei passendem Talent auch aus der Bodensee-Region problemlos im Geschäft der Großen mitmischen. Ein Beispiel gefällig? Bausas Super-Hit „Was du Liebe nennst“ wurde vom Radolfzeller Martin Willumeit produziert. Er sagt: „Früher musste man als Musiker in eine Großstadt ziehen um zu connecten oder um auf sich aufmerksam zu machen. Heute kann man das dank des Internets und Social Media von überall machen. Zur Selbstinszenierung kann jeder seine Kanäle nutzen, egal ob YouTube, Instagram oder Snapchat. Zum Arbeiten ist man als Künstler über WhatsApp oder Dropbox vernetzt und im täglichen Austausch mit den Leuten, mit denen man arbeitet – egal, wo diese sich gerade befinden.“
So weit, so eindeutig. Das Internet verbindet! Allerdings galt Hip-Hop im Speziellen über die Jahre als urbanes Phänomen: Geboren und aufgepäppelt in den Straßen New Yorks war der Sprechgesang auch in Deutschland nach ersten Gehversuchen in Heidelberg geprägt vom Großstadt-Leben: Stuttgart, München und Hamburg präsentierten früh komplexe Szenen, später schwang sich Berlin mit Sido und Bushido zur Hip-Hop-Hauptstadt auf, ehe im vergangenen Jahrzehnt vor allem Frankfurter Rapper auf sich aufmerksam machten. Speziell im Gangsta-Rap wurde das Straßenleben in der Metropole und die Zugehörigkeit zu einer Szene zum entscheidenden Motiv.
Sido erschuf mit „Mein Block“ die ultimative Kiez-Hymne“, Haftbefehl beschwor Frankfurt stolz zur „Hauptstadt des Verbrechens“. Echtheit – oder Realness, wie man in Hip-Hop-Kreisen sagt – und Authentizität reiften zu entscheidenden Signalen. Und heute? Bietigheim-Bissingen statt Berlin! Dani Fromm erklärt hierzu: „Für mich hat Realness mehr mit Glaubwürdigkeit zu tun. Es geht um Show, um Unterhaltung. Einem guten Schauspieler glaub’ ich für die Dauer des Films ja auch den Mafia-Boss, ohne ihn tatsächlich für einen zu halten. Glaubwürdig irgendetwas rüberbringen, egal was, kann man meiner Meinung aber nur, wenn man es gern macht. Deswegen hat Realness, echte Realness, für mich viel mit Liebe und Hingabe zur Kunst zu tun. Ohne funktioniert das bei mir nicht.“
In den vergangenen Jahren hat Rap seine Leichtigkeit zurückgewonnen. Die neue Generation der Gangsta-Rapper, zu denen Nimo gehört, flirtet nur zu gerne mit eingängigen Pop-Melodien. Gesang ist längst nicht mehr verpönt, die in Frankreich geprägten, überaus tanzbaren Stile Trap und Afro-Trap sorgen für Erfolge in den Charts – und auch die schönen Dinge im Leben wie Mode oder Liebe finden nun öfter ihren Weg in die Song-Texte. Vor diesem Hintergrund verlieren die Zugehörigkeit zu einer harten Szene und ein authentischer Lebenslauf an Bedeutung. Musikalität und Talent rücken auch innerhalb der Szene viel stärker in den Fokus. Eine Frage bleibt: Warum bietet gerade Bietigheim so fruchtbaren Boden für Deutsch-Rap? Dani Fromm vermutet „eine Kombination aus besonders langweiligem Umfeld und schwäbischem Schaffeschaffe-Häuslebauer-Fleiß.“