Ist Wissenschaft erst einmal erwiesen, wird sie gefährlich. Über Generationen hinweg mussten Millionen Kinder widerwillig Spinat in sich hineinschaufeln, weil dessen hoher Eisengehalt als „wissenschaftlich erwiesen“ galt. Erst nach sage und schreibe 120 Jahren fand man heraus: Der angebliche Beweis war in Wahrheit bloß ein Rechenfehler. Die Kinder haben nicht nur umsonst geschaufelt, sondern in dieser Zeit tatsächlich eisenhaltige Nahrung auch noch links liegen lassen.

Wissenschaft als Totschlagargument

Der Schlagkraft einer Wissenschaftsrhetorik hat dieses Debakel nicht geschadet. „Das ist doch wissenschaftlich erwiesen!“, ist noch heute das Totschlagargument Nummer eins, wenn es darum geht, Gesundheitskonzepte, Erziehungsideale oder Digitalstrategien erfolgreich auf den Markt zu bringen.

Als Innovation in Esoterik umschlug

Dabei lohnt ein Blick in die jüngere Vergangenheit, um zu erkennen, wie leicht Wissenschaftsgläubigkeit und Innovationsdrang in Esoterik und Sektentum umschlagen kann. Der Psychologe Timothy Leary war über seine Promotion und anschließende Assistenzprofessur an die berühmte Harvard-Universität in Boston gelangt, wo er zu den hoffnungsvollsten Talenten seines Fachs galt.

Ein Wissenschaftler auf dem Weg zum Sektenguru: Timothey Leary in den Sechzigerjahren.
Ein Wissenschaftler auf dem Weg zum Sektenguru: Timothey Leary in den Sechzigerjahren. | Bild: imago stock&people

Sein Forschungsgebiet: Therapiemöglichkeiten durch den Einsatz neuer chemischer Verbindungen wie etwa dem Psychotomimetikum „Delysid“ vom Schweizer Pharmahersteller Sandoz – heute besser bekannt unter dem Namen LSD.

Von der Polizei im vergangenen Sommer beschlagnahmte LSD-Trips.
Von der Polizei im vergangenen Sommer beschlagnahmte LSD-Trips. | Bild: Andreas Arnold

Der amerikanische Autor T.C. Boyle hat über die Entwicklung und Verbreitung dieser Droge einen Roman geschrieben. „Das Licht“ erzählt die Geschichte des jungen Wissenschaftlers Fitz, der in den Einflussbereich des charismatischen Psychologen Timothy Leary gerät. Er wähnt sich an der Spitze des Fortschritts: Mit der neuen Medizin lässt sich der wahre Mensch erkunden, befreit von allen sozialen Prägungen und Zwängen!

Warum keine Tierversuche?

Es ist nicht so, dass auf dem Weg aus der Forschungsgruppe in die Drogensekte keine Warnhinweise zu finden wären. Warum nehmen die Forscher das Medikament selbst ein, statt wie üblich Tierversuche anzuwenden? Und wieso braucht es dazu Kerzenschein und Jazzmusik? Warum sehen andere Professoren das Ganze so kritisch?

Neid der alten Garde

Doch Fitz findet auf all diese Fragen überzeugende Antworten. Tiere können nun mal nicht über psychische Erfahrungen berichten, ein bisschen wohnliche Atmosphäre dient doch nur dem Forschungsziel, und die alte Garde an der Uni ist eben neidisch.

Profaner Erkenntnisdrang

Das alles wirkt bei Boyle geradezu erschreckend einleuchtend und folgerichtig. Es hat zu dieser Zeit ganz offenkundig keiner großen Verführungskünste bedurft, um kritische Akademiker in die Drogenabhängigkeit zu führen: Was genügte, war ganz profaner Erkenntnisdrang.

Seitensprünge im LSD-Rausch

Die Forscher lügen sich so einiges zurecht, um weiter auf dem Pfad der Erkenntnis wandeln zu können. Seitensprünge im LSD-Rausch zum Beispiel: Ist die Zeit für freie Liebe nicht ohnehin schon angebrochen? Ist Eifersucht nicht bloß ein krankhafter Auswuchs des Egos?

Autor T.C. Boyle im Gespräch.
Autor T.C. Boyle im Gespräch. | Bild: Britta Pedersen

Vom Establishment aus der Uni vertrieben, ziehen sie bald auf ein eigenes Anwesen. Frauen und Kinder sind dabei, die Partner werden früh vom Segen des LSD überzeugt. Bezahlt wird alles vom Meister persönlich, die Erbschaft seiner Freundin macht es möglich. Zwischen Drogenrausch und Partnertausch geraten die wissenschaftlichen Ambitionen immer weiter in den Hintergrund, an seiner Dissertation arbeitet Fitz bald so gut wie gar nicht mehr.

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Mangels eigener Erfahrung lässt sich schwer sagen, wie gut die LSD-Trips getroffen sind in diesem Buch. T.C. Boyle (der in jungen Jahren selbst Drogenerfahrungen gesammelt hat) beschreibt sie jedenfalls in einer beeindruckenden Plastizität fern jeder Klischeehaftigkeit. Im Zusammenspiel mit dem penetranten Optimismus, der in dieser Gruppe zum guten Ton gehört, verursacht das eine zunehmend verstörende Mischung. Ganz schlecht kann einem davon werden.

Künstlich gute Laune

Die künstlich gute Laune soll ablenken von der Einsicht ins Versagen, soll darüber hinwegtäuschen, dass sich hinter dem immer stärker beschworenen Zusammenhalt nur eine immer verzweifeltere Einsamkeit verbirgt. „Mal für einen Moment ernst sein, nur dieses eine Mal und nur für eine Minute“, fleht Fitz’ Frau Joanie einmal. Doch für Ernsthaftigkeit – eigentlich die Grundhaltung jedes wissenschaftlichen Arbeitens – ist in dieser allzu schönen neuen Welt kein Platz.

Hippiegruppe in San Francisco 1967: Drogen und eine penetrant gute Laune gehörten zum Ton.
Hippiegruppe in San Francisco 1967: Drogen und eine penetrant gute Laune gehörten zum Ton. | Bild: UPI

Boyle gelingt es, selbst einen buchstäblich rauschhaften literarischen Sog zu erzeugen. Sein Held gerät darin immer tiefer in den Abgrund. Wir folgen ihm auf seinem Trip, über das Zerbrechen seiner Familie, die Auslieferung seines Sohnes an die Droge bis zur Sehnsucht nach einem Ende, das nur die Überdosis bringen kann.

Hoffnung auf Gott

Da ruht seine Hoffnung statt auf Vernunft schon auf Gott (Verbirgt er sich etwa im grellen Licht, das sich ihm während der LSD-Trips immer wieder zeigt?) und einem jenseitigen Leben. Und aus dem akademischen Projekt ist eine Gemeinschaft von Hippies geworden, die an Karma glauben und Seminare zur Bewusstseinserweiterung abhalten.

Das Kuriose wird zur Norm

Absurd erscheint das alles nur aus der Distanz: Sind die Lebenslügen erst einmal groß genug, wird das bisher Normale nämlich kurios, das Kuriose dagegen zur neuen Norm. Dann ist nicht die Droge verrückt, sondern die Welt da draußen. Über die Warnung auf dem Etikett „Gift“ kann Fitz deshalb nur lachen: Ist doch die Substanz darin „das einzige bekannte Mittel gegen das Gift der Welt“. Ganz gewiss und wissenschaftlich erwiesen.

T.C. Boyle:Das Licht (übersetzt von Dirk Gunsteren).Hanser-Verlag,  München, 2019,  384 Seiten, 25 Euro
T.C. Boyle:Das Licht (übersetzt von Dirk Gunsteren).Hanser-Verlag, München, 2019, 384 Seiten, 25 Euro