Passt unsere Schule zu unserer Gesellschaft, Frau Professorin Karakasoglu?

Yasemin Karakasoglu: So pauschal lässt sich das nicht beantworten. Viele Schulen haben mittlerweile eigene Profile, auch gibt es regional und finanziell große Unterschiede. Was aber in der Breite verfehlt wird, ist der Anschluss an die digitalisierte Gegenwart. Und ebenso weit weg sind wir von einem flächendeckenden Anschluss an die Gegenwart der Migrationsgesellschaft.

Technologie ist toll, aber doch nicht so wichtig wie eine Schule, die Schülerinnen und Schüler mit globalen Lebensläufen angemessen unterrichtet?

Karakasoglu: Genau dabei kann Digitalisierung ja helfen. Durch den sachgemäßen Einsatz von KI haben Sie erheblich bessere Möglichkeiten, mit Menschen umzugehen, deren Sprache Sie nicht sprechen. Digitale Kommunikation erlaubt es, die Internationalität in den Klassenraum zu holen.

Das brauchen wir?

Karakasoglu: Da muss ich doch nur die Fakten anschauen. Wir sind auf Immigration angewiesen. Ohne Zuwanderung würde die Bevölkerung hier schrumpfen. Was soll dann aus diesem Land werden? Gibt es dafür überhaupt einen Plan – außer eben der Anwerbung von Menschen aus anderen Ländern? Trotzdem haben wir eine Schule, die davon ausgeht, dass Schülerinnen mit Deutsch zu Hause aufwachsen und immer schon in Deutschland gelebt haben.

Und die anderen passen nicht ins System?

Karakasoglu: Die verbreitete Vorstellung ist, dass alle, die von dieser Norm abweichen, Sonderformen der Beschulung benötigen. Das Ziel dabei ist, die Regelschule zu entlasten von ihrer Aufgabe, auch auf diese Schülerinnen und Schüler mit – wie es dann definiert wird – „besonderen Bedarfen“ einzugehen. Sinnvoll wäre der umgekehrte Ansatz: Die Regelschule muss sich in ihren Inhalten, in ihrer Didaktik, in ihren Lernformen und auch Lernumgebungen auf diese Schülerinnen und Schüler einstellen. Und zwar umfassend und für alle Zeiten. Das ist nämlich kein vorübergehendes Thema, das wegen einer aktuellen Welle an Einwanderung mal aushilfsweise gemacht werden müsste. Migration bestimmt die Entwicklung unserer Gesellschaft.

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Diese fehlende Einstellung auf die globalisierte Schülerschaft hatte die Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Gogolin Ende der 1980er in ihrer Habilitation als den „monolingualen Habitus“ der deutschen Schule bezeichnet – und darauf gedrängt, ihn zu überwinden.

Karakasoglu: Genau.

Mittlerweile ist sie emeritiert. Aber den Habitus, also die problematische Art, sich einsprachig zu geben, den gibt es noch...

Karakasoglu: Ja. Den gibt es noch. Wir haben versäumt, nachzusteuern. Infolge der Pisa-Ergebnisse sind Anfang des Jahrhunderts Appelle seitens der Kultusministerkonferenz formuliert worden. Nötig gewesen wäre stattdessen eine wirksame, bundesweite Umstrukturierung in der Bildung der Lehrkräfte. Deren Ziel müsste sein, ihnen die Kompetenz zu vermitteln, immer mitzudenken, dass sie es auch mit Jugendlichen zu tun haben, die eben nicht immer schon in Deutschland gelebt und nicht Deutsch als Erstsprache haben. Sie müssten die Unterrichtskonzepte daran anpassen. Denn es hilft niemandem, wenn eine Lehrkraft schockiert über diese Schülerinnen und Schüler ist und sie lieber an Vorklassen oder gar so genannte Willkommensschulen abgeben möchte, an denen dann das Fachpersonal konzentriert wird.

Führt diese Hilflosigkeit zu Repression?

Karakasoglu: Man trifft nach wie vor auf die Angst, andere Sprachen könnten die Lernprozesse behindern. Deshalb gibt es die irrige Vorstellung, es wäre hilfreich, das Nutzen anderer Sprachen in der Schule zu verbieten, um Deutsch als Bildungssprache zu festigen. Lern- und Sprachlernforschung sagen hingegen: Die Einbeziehung vieler Sprachen im Unterricht ist möglich. Sie hilft den Schülerinnen und Schülern, auch inhaltlich Anschluss zu finden an den Lernstoff und sich Weltwissen so anzueignen, dass sie Perspektiven für die Zukunft entwickeln können.

Zur Person

Ist Lehrerinnen-Bildung der einzige Hebel, um die Lage zu verbessern?

Karakasoglu: Nein, aber der, über den wir am ehesten vorankommen: Über die Fortbildung des Fachpersonals kann ich Schulentwicklung und -kultur schneller beeinflussen, als wenn ich das ganze System verändern will.

Aber das wäre nötig?

Karakasoglu: Das hat in vielen Bundesländern längst begonnen – beispielsweise in Bremen, wo die Mehrgliedrigkeit auf zwei allgemeinbildende Schularten nach der Grundschule zusammengestrichen wurde. Die Stadtstaaten fungieren da als Labore für die größeren Länder.

Bloß kommen sie bei den Vergleichsstudien à la Pisa schlecht weg. Das empfiehlt sie nicht gerade als Modell…

Karakasoglu: Hamburg ist besser geworden.

Aber noch weit weg von der Spitze!

Karakasoglu: Sie müssen die unterschiedlichen Ausgangslagen berücksichtigen. Was sich also sagen lässt ist, dass Hamburg durch ein transparentes Monitoring-System den Lernerfolg, den Pisa misst, deutlich gesteigert hat. Einfach, indem man dort schaut, was bringen die Impulse der Veränderung, die man ins System hineingibt.

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Also genau beobachten und Rückmeldung geben?

Karakasoglu: Ja. Und zwar besonders, wenn man nicht nur auf fachspezifische Lernerfolge schaut, sondern auch die Steigerung der sozialen Kompetenzen und das psychische Wohlbefinden in den Blick nimmt.

Ach, gut gehen soll‘s den Jugendlichen in der Schule auch?

Karakasoglu: Das ist ein wichtiger Faktor. Das sollte man viel mehr in den Mittelpunkt stellen. Gerade angesichts dessen, dass wir es beim Thema Zuwanderung auch mit Kindern zu tun haben, die, gerade wenn sie durch Flucht hierhergekommen sind, viele Erfahrungen gemacht haben auf ihrem Weg. Die kommen hier in eine Gesellschaft, die nicht gerade positiv gestimmt ist im Bezug auf Zuwanderung – und in der geflüchtete Menschen oft genug zusätzliche Traumatisierungen erleiden. Schule muss das auffangen und ihnen ein förderliches Umfeld breiten. Nur so kommen sie wirklich zu ihrem Recht auf Bildung.

Viele Lehrkräfte sind guten Willens. Lässt das System die ein bisschen im Regen stehen?

Karakasoglu: Mehr als nur ein bisschen. Es wäre grob fahrlässig, darauf zu setzen, dass die Lehrkräfte durch ihre Motivation und ihre Schülerinnenorientierung das auffangen könnten, was im System dysfunktional ist. Wir sind da an einem Punkt, an dem wirklich sehr tief eingegriffen werden muss ins Selbstverständnis des Systems und seiner Ausstattung.

Heißt...?

Karakasoglu: Das kostet Geld.

Das wir nicht haben?

Karakasoglu: Das wird immer wieder gesagt. Dabei sind wir reich. Wir sind das Land mit dem drittgrößten Inlandsprodukt weltweit. Angesichts dessen ist es hochgradig peinlich, diese Unterfinanzierung des Bildungssystem mit dieser Formulierung zu legitimieren.

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Also: Was wird benötigt?

Karakasoglu: Wir brauchen eine sehr gute Ausstattung von Schulen, technologisch und bezogen aufs Personal. Und zwar brauchen wir nicht nur Lehrkräfte, sondern multiprofessionelle Teams, die verschiedene Aspekte dessen abdecken, was Kinder und Jugendliche zu einer gedeihlichen Entwicklung benötigen. Da gehören die mentale und die körperliche Gesundheit dazu: Die Kinder wachsen in einer Gegenwart mit furchtbaren Herausforderungen auf, mit Problemen in den Familien, mit Angst vor Krieg, Krankheiten und der Klimakatastrophe. Wir fangen jetzt endlich an, zu sagen, dass wir in allen Schulen mindestens eine sozialpädagogische Fachkraft brauchen. Das ist gut. Aber es reicht nicht: Wir wissen ja gar nicht, was für Berufe in den nächsten zehn Jahren überhaupt noch gefragt sind. Im Grunde brauchen Sie Gesundheitsexperten, Psychologinnen, Sozialpädagoginnen, aber auch Menschen, die Jugendlichen Zugänge zu Berufsgruppen eröffnen können, etwa Handwerkerinnen und Handwerker. Das würde etwas kosten. Aber es würde dazu beitragen, dass Schule ihre Aufgabe erfüllt.

Und wenn sie es nicht tut, kostet das auch?

Karakasoglu: Mit der Keule einer ökonomischen Begründung möchte ich gar nicht kommen. Mir ist wichtig, dass Schüler und Schülerinnen als vulnerable Gruppe wahrgenommen werden, für die unsere Gesellschaft verantwortlich ist. Alle Gesetze und Konventionen, die wir unterschrieben haben, sprechen ihnen das Recht auf eine wirklich gute Bildung zu. Das müssen wir einlösen.