Das Hotel Savoy in Lodz gibt es wirklich. Joseph Roth benennt in seinem gleichnamigen Roman von 1924 die Stadt zwar nicht explizit. Aber sein Ich-Erzähler Gabriel Dan kehrt aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück und steht nun „zum ersten Mal nach fünf Jahren wieder an den Toren Europas“.
Er will weiter nach Westen wandern, aber zunächst einmal bezieht er Quartier im sechsten der sieben Stockwerke des Hotel Savoy (das historische Gebäude hat tatsächlich sieben Stockwerke). In den obersten Etagen wohnen die, die kein Geld haben, unten die Wohlhabenden. Es ist eine Art Schicksalsgemeinschaft, die hier kurz nach dem Ersten Weltkrieg zusammenfindet. Das Hotel Savoy wird zur Metapher für die aus den Fugen geratene Welt.
Die größten Operettenhits bis 1935
In lakonischem Stil reiht Roth locker Szenen aneinander und zeichnet mit wenigen Strichen all die gestrandeten Existenzen, die Krieg und Zufall in das Hotel geführt haben. Sie beargwöhnen sich und feilschen miteinander, tanzen und trinken. Es geht dabei um Liebe in einer Zeit, die nach Weltuntergang und dem Parfum von Varietés riecht. Nicht nur, aber bis dahin ist es der Stoff, aus dem Operetten gemacht sind.

Kein Wunder also, dass die österreichische Musicbanda Franui und die Regisseurin Corinna von Rad die Idee hatten, Joseph Roths Roman als Handlungsfaden für eine Hybrid-Operette aus den größten Operetten-Hits der Zeit bis 1935 zu nehmen. Die Koproduktion mit der Staatsoper Stuttgart hatte nun im Staatstheater Stuttgart Premiere.
Jüdische Komponisten und Librettisten
Die Operette war ja nicht bloß irgendeine Form der Unterhaltungsmusik. Es war eine Kunstform, die von mehrheitlich jüdischen Komponisten und Librettisten geschaffen worden war. Emmerich Kálmán, Leo Stein, Oscar und Leo Straus, Paul Abraham, Victor Léon und wie sie alle hießen mussten nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten das Land verlassen oder wurden in Konzentrationslagern ermordet.
Selbst für Franz Léhar war es nicht einfach, obwohl seine „Lustige Witwe“ Hitlers Lieblingsoperette war. Doch Léhar arbeitete praktisch ausschließlich mit jüdischen Librettisten zusammen und war obendrein mit einer Jüdin verheiratet. „In kürzester Zeit wurde die komplette Unterhaltungsmusik der Zeit völlig ausgelöscht“, sagte Franui-Musiker Andreas Schett in einem Interview. „Bis heute hat sich unser kulturelles Gedächtnis nicht davon erholt.“
Also sollte es in dem neuen Stück auch darum gehen, nicht nur Operette selbst zu machen, sondern auch die Lebensläufe ihrer Urheber zu beleuchten. Und auch Joseph Roth war ja ein Jude, dessen Leben tragisch endete: 1933 emigrierte er nach Paris, verfiel dem Alkohol und starb 1939 im Armenhospital. Was von alldem in Stuttgart zu erleben ist? Kurz gesagt: nicht sehr viel.
Musicbanda Franui kitzelt den Klezmer heraus
Am ehesten noch spürt die Musicbanda Franui in der Musik den jüdischen Wurzeln nach. Das Ensemble versteht sich seit jeher als „Umspannwerk zwischen Klassik, Volksmusik, Jazz und zeitgenössischer Kammermusik“ und hat schon aus Musik von Schubert oder Mahler deren volksmusikalisches Potenzial herausgearbeitet. Dazu spielt es in einer Besetzung, die an Blasmusikkapellen und alpenländische Folklore erinnert – Akkordeon, Klarinette, Hackbrett und Harfe inklusive, und auch eine Geige ist zur Stelle.
Alles in allem eignet sich das auch, um den Klezmer aus der Operette herauszukitzeln. Und das tut Franui immer wieder. Selbst eine Nummer wie „Meine Lippen, die küssen so heiß“ aus der mit mancherlei Exotismen spielenden Operette „Giuditta“ klingt plötzlich nach Osteuropa statt nach Süditalien (wunderbar hier Josefin Feiler, die wie Tenor Moritz Kallenberg zum Ensemble der Staatsoper gehört).
Natürlich darf auch die Laszivität einzelner Nummern nicht zu kurz kommen, wie etwa in „Toujour l‘amour“. Und dann geht es wieder in die entgegengesetzte Richtung, wenn der Portier Ignaz (Boris Burgstaller) „Lippen schweigen“ wie im Stechschritt skandiert. Die Musiknummern erwachsen mehr oder weniger organisch aus der Handlung heraus.
Brav an der Vorlage entlang
Die hält sich recht brav an die Vorlage mit all ihren Figuren, darunter der todkranke Clown Santschin (Gábor Biedermann) mit seinem Esel (Boris Burgstaller), die Varieté-Tänzerin Stasia (Josefin Feiler), in die sich Gabriel (Marco Massafra) verliebt, der laute Revolutionär und Gabriels Freund Zwonimir (auch sein schnarrender Gesang macht Freude: Klaus Rodewald), der Lotterieträumer Fisch (Inga Krischke statt der erkrankten Paula Skorupa), der Souffleur Abel Glanz (Klaus Rodewald), die Mädchen, die nackt tanzen müssen, der geizigeb Onkel Phöbus Böhlaug (Josephine Köhler) und etliche mehr, für die die Schauspieler und Schauspielerinnen immer wieder in neue Kostüme (Sabine Blickenstorfer) schlüpfen.

Und alle warten sie auf den Milliardär Henry Bloomfield aus Amerika (Inga Krischke), dem der Ruf vorauseilt, allen zu helfen. Dabei kommt er in Wahrheit nur in seine Heimat, um das Grab seines Vaters Jechiel Blumenfeld zu besuchen.
Wie so oft, wenn ein Prosatext auf die (hier recht schlicht gehaltene) Theaterbühne (Ralf Käselau) wandert, geht viel verloren, sowohl vom Inhalt als auch von der Sprache. Die Chance, die Leerstellen neu zu füllen, nutzt Corinna von Rad nicht. Querverweise, ob nun Richtung Nationalsozialismus oder gar in die Gegenwart, gibt es nicht. Was bleibt, ist ein freundlicher Operettenabend mit dem üblichen Klamauk (Frauen- in Männerkleidern und umgekehrt) und ein paar bitteren Untertönen aus Roths Vorlage.
Weitere Vorstellungen sind am 1., 2., 3., 9., 10. und 11. Juli 2024 angesetzt. Tickets und weitere Informationen gibt es hier.