Fritz Lang hat dem Schriftsteller Arnold Stadler die Welt schöner gemacht – oder schöner scheinen lassen. Der Stuttgarter Künstler war in den 1920er-Jahren in Tansania und malte in der Folge immer wieder und wieder den Kilimandscharo, der zeitweise zum Kolonialbesitz des Deutschen Kaiserreichs gehörte. Die „Kaiser-Wilhelm-Spitze“, wie der Zauberberg auch hieß, war Langs Gipfel seiner Sehnsucht.

Eines dieser Ikonen, der „Der Kibo mit Palme“, hängt – will man Stadlers Ich-Erzähler in „Am siebten Tag flog ich zurück. Meine Reise zum Kilimandscharo “ glauben – im elterlichen Haus des Autors. Es war sein Kindheitstraum, den 6000 Meter hohen Berg, seinen „Traum von Eden“, zu sehen. Was im Januar 2017 gelingt. Stadler schreibt über den Besuch einen Auftragstext für eine Beilage der „Zeit“; 2021 erscheint dann der Reise-Roman.

Wieder als Afrika-Reisender

In seinem neuen Roman „Irgendwo. Aber am Meer“ taucht der vom inneren Kompass getriebene Afrika-Reisende wieder auf. „Die Schwalben waren auch vom Kilimandscharo an den Rhein zurückgekehrt. – Wie ich“, notiert das namenlose Ich auf Seite 16. Und kommt gleich mehrfach auf jene Reise durch deutsche Gegenwart, düstere koloniale Vergangenheit und touristische Abenteuer zurück. Die Übergänge von einem literarischen Wurf zum nächsten sind bei Stadler fließend.

Dass er an einem einzigen großen Buch schreibt, darüber besteht kein Zweifel. Wiederholungen eingeschlossen. „So viel Luft ist auf der Welt, nur nicht für mich!“, zitiert der Erzähler im Kilimandscharo-Roman seinen sterbenden Großvater. In „Irgendwo. Aber am Meer“ ruft er die bedrückende Szene erneut auf. Aber auch Lore, die Postbotin, Mausi, die Tante, und andere vertraute Figuren erleben eine Wiedergeburt.

Erzähler und Romanheld sind identisch. Während Stadler im vorangegangenen Buch durch stilistische Kniffe eine (am Ende) haarspalterisch anmutende Trennung von „Autor“ und „Ich-Erzähler“ vollzog, verzichtet er im neuen Roman auf Schein-Fiktionalisierung: „Ach, ich. Ich war bestenfalls eine Romanfigur“. Will sagen: Er macht sich selbst zur Romanfigur. Schon in seinen ersten Büchern – wie „Ich war einmal“ (1989) oder „Mein Hunde, meine Sau, mein Leben“ (1994) – verführte die autobiografische Grundierung der Texte zur Gleichsetzung des Verfassers mit dem erzählenden Ich.

Martin Walser gab dieser Lesart noch Futter, indem er in einem Essay Stadlers Schreiben als „Selbstrettung“ bezeichnete. In „Irgendwo. Aber am Meer“ gibt es aber kein Versteckspiel mehr.

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So zitiert die Roman- und Erzählfigur Stadler gleich mehrfach das eigene Werk, darunter auch den Kilimandscharo-Roman. Ohne Filter berichtet er über Menschen und Mäuse – ja, der Erzähler liebte Mäuse (Seite 100). Wir wissen nun, um bei Äußerlichkeiten zu bleiben, dass er, von dauerhaftem Heimweh geplagt, ein erstes Zuhause in Rast hat, einen Koffer in Berlin und ein zweites Haus im Wendland; dass er einen Lebensmenschen hat, der im Lidl einkauft.

Der Erzähler ist von einem Mercedes auf einen Dacia Duster umgestiegen, auch das erfahren wir. Kein Abstieg, sondern ein erster Schritt auf seinem Weg zum autofreien Leben, das er dann beginnen wolle, wenn die Bahnstrecke Radolfzell-Sigmaringen wiedereröffnet würde. Die Hoffnung stirbt zuletzt…

Er gewährt intime Einblicke in das Leben der Anderen, etwa in das von Michael Ungeheuer, der aus dem Tuttlinger Unternehmen „Aesculap“ eine Weltfirma machte und zuletzt in einem kleinen Zimmer im städtischen Altersheim auf seinen Tod wartete – „Geld für vierundzwanzig Pfleger am Tag wäre dagewesen…“.

Arnold Stadler: „Irgendwo. Aber am Meer“. S. Fischer Verlag, 224 Seiten, 24 Euro.
Arnold Stadler: „Irgendwo. Aber am Meer“. S. Fischer Verlag, 224 Seiten, 24 Euro. | Bild: Fischer Verlag

Die Handlung des Romans ist dünn. Doch auf Handlung kommt es in Stadlers Büchern nicht an. „Wer versucht, einen Plot zu finden, wird erschossen“ – dieser Satz von Mark Twain steht über Stadlers Roman „Sehnsucht“ (2002). In „Irgendwo. Aber am Meer“ begründet der Erzähler diesen vermeintlichen Mangel damit, dass sein Leben keinen Plot hat. Stadlers Romane werden nicht der Handlung, sondern der Sprache wegen gelesen und der sich daraus entwickelnden Sätze. „Öfter bildet sich eine ganze Existenzdimension in einem einzigen Satz ab“, notierte dazu Freund Walser. Das ist die Außenperspektive.

Der Ich-Erzähler, der gerne die Rolle des Don-Quichotte einnimmt – auch das eine Pose, die sich wie ein roter Faden durch Stadlers Werk zieht – spricht aber despektierlich von „Vogelscheuchensätzen“. Wir widersprechen ihm und erinnern an das, was ein kluger Kritiker sinngemäß notierte: Der Satzartist Stadler ist ein großer Meister der Lakonie und Selbstironie, der schönen Pointe und des kultivierten Selbstzweifels.

Auch wenn er sich nicht um den Plot schert, ein Handlungsgerüst hat „Irgendwo. Aber am Meer“ dennoch; der Roman ist in sechs Kapitel gegliedert. Im ersten beschreibt Stadler (s)eine Lesung aus dem Kilimandscharo-Buch im Schloss Sayn in der Westerwälder Provinz, die aus ihm einen „alten weißen Mann“ macht: „Sie hatten mich auf Sayn zur Rede gestellt, im Grunde aus Enttäuschung, weil ich es war, und nicht Greta Thunberg“.

Statt über das neue Werk zu sprechen, wird er vom Publikum genötigt, über die Klimakatastrophe zu reden, wird zynisch befragt, warum er nichts zu den ertrinkenden Flüchtlingen im Mittelmeer sagt. Sein Hinweis, dass ja alles in seinem Buch steht, keiner hört hin – tatsächlich sind im Kilimandscharo-Roman der ökologische Fußabdruck, Flugscham, die ihm Angst einflößende „Erscheinung“ Greta ein Thema.

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Der Schriftsteller redet sich Rage und um Kopf und Kragen: „Statt zu antworten, fügte ich neue Fragen, auf die es erst recht keine Antwort gab, hinzu.“ – „Altmänner-Geschwätz“ hallt es vielstimmig aus dem Saal zurück. Der „Experte im Nichtwissen“ geht schließlich ab und macht sich, tief verletzt, mit Taxi und Zug auf den Weg nach Tuttlingen, in die Welthauptstadt der Medizintechnik, wo er seinen Dacia geparkt hat. Aber er hat noch ein anderes Ziel: das Meer und die griechische Insel Ithaka, wo er ein Buch „über dies und alles“ schreiben will. Zunächst macht er einen Umweg über den Heimatfriedhof.

Episoden, Anekdoten, Kalauer

An keiner Stelle seiner virtuosen Prosa erzählt Stadler linear. Auch in „Irgendwo. Aber am Meer“ flankiert er seinen Text mit einem hier kaum wiederzugebenden para-erzählerischen Apparat bestehend aus Episoden, Anekdoten, Kalauern. Die Lektüre hat etwas von einer irren Fahrt. Damit knüpft er an Prämissen des „Modernen Romans“ an. Dem Fluchtpunkt und „Strohhalm“ Ithaka widmet er die Kapitel drei bis fünf, das sechste gilt der Heimreise auf der „Asterion II“ – „Ich sprang nicht“.

Der Erzähler richtet sich in einem Haus mit Infinitiy-Pool auf der Insel Lefkada ein, die aber einen Blick auf den Sehnsuchtsort gewährt. Hölderlin, die antiken Klassiker, aber auch Ari Sokrates Homer Onassis & Co. im Kopf, erkundet er gemeinsam mit seinem Lebensmenschen im Dacia die „Südseite des Lebens“. Zum Schreiben kommt er nicht. Auch verweigert er das Bad im Meer, aber notiert befreit: „Was war Glück? Nun wusste ich es.“ Die Insel von Odysseus, dem Vater aller Irrwege, betrat er nicht. Der Blick genügte. Wie am Kilimandscharo. Er schaffte den Berg nur mit den Augen hinauf.