Alles beginnt mit einem Zufall: Als die Leiterin der Konstanzer Wessenberg-Galerie, Barbara Stark, beim Besuch einer Ausstellung in Wien das Gemälde „Bescheiden“ sieht und auf dem Schildchen den Namen My Ullmann mit den Lebensdaten „1905 Wien – 1995 Konstanz“ liest, wird sie neugierig. Weder ist ihr die Künstlerin bekannt, noch weiß sie etwas über deren Lebensjahre am Bodensee – das lässt sie nicht mehr los.
Viele intensive Forschungsjahre später liefert nun die Ausstellung „My Ullmann – Bilder, Bühne, Kunst am Bau“ die erstmalige Neu- und Wiederentdeckung dieser vielseitig tätigen, im Leben und der Kunst selbstbewussten und unkonventionellen, gleichwohl in Vergessenheit geratenen Frau.
Sie erfand sich ständig neu
Schon der Titel der Ausstellung lässt die Facetten ihres Schaffens deutlich werden. So war Maria Ullmann, die ihre Arbeiten mit My, der lateinischen Transkription des griechischen Buchstabens M, signierte, tätig als Malerin, Werbegrafikerin, Bühnen- und Kostümbildnerin, Möbeldesignerin, Innenarchitektin und Wandbildgestalterin.
Von den frühen 20ern bis in die späten 60er-Jahre spannt sich ein umfangreiches und enorm vielschichtiges Werk. Dabei schien sich die Künstlerin in den jeweiligen Medien und Materialien, Techniken und Disziplinen zwischen Malerei, Druckgrafik, Zeichnung, Collage, Textil- und Metallarbeiten, zwischen Wand und Raum, Bild und Architektur, ständig aufs Neue selbst zu erfinden.
Die in Kooperation mit dem Museum für angewandte Kunst (MAK) in Wien konzipierte Schau folgt den biografischen und schöpferischen Stationen der von zahlreichen Ortswechseln geprägten Laufbahn Ullmanns. Sie führt den Betrachter durch ein schillerndes Kaleidoskop der Werkgattungen, Bildaufgaben, Stile und Motive. Wie ein roter Faden zieht sich dabei das Thema Dynamik, Bewegung und Energie sowie die Transformation des Gegenständlichen in zeitgemäße Ausdrucksformen durch ihr Gesamtwerk.

Den Auftakt der Schau markieren geometrisch-expressiv zergliederte Gemälde und Linolschnitte, die Ullmann als Vertreterin des sogenannten Wiener Kinetismus ausweisen, einer avantgardistischen Stilrichtung, die sich um 1920 im Umfeld der Wiener Kunstgewerbeschule als Sonderform des Konstruktivismus entwickelte.
Von kraftvoller Bewegung durchdrungen begegnen dem Betrachter auch die abstrakten Farbkreide-Arbeiten, in denen Ullmann um 1925 mit furioser Gestik die Optionen maximaler Dynamik auf der Fläche auslotet. Jene ausdrucksgeladenen Arbeiten reflektieren die Aufbruchsstimmung der jungen Kunst nach Ende des Ersten Weltkrieges und zeigen Ullmann am Puls der Zeit.
Arbeiten für Theater in Wien, Zürich, Luzern und Berlin
Gleiches gilt für die farbintensiv vibrierenden Stoff-, Teppich- und Schmuckpapierentwürfe für die Wiener Textilfirma Backhausen & Söhne, in denen sie um 1930 eine lebhafte Mixtur aus floraler Expression, strenger Konstruktion und fantastischer Ornamentik entstehen lässt.
Der weitere Weg führt zur Bühnen- und Kostümgestaltung, die Ullmann in den frühen 30er-Jahren für Theater in Wien, Luzern, Zürich und Berlin, später auch in Leipzig und Münster, ausführt. Entwurfszeichnungen, historische Fotografien und Broschüren vermitteln dem Besucher der Ausstellung einen Eindruck der ebenso zeitlos strengen wie auch verspielt und exzentrisch wirkenden Schauspielerkleidungen.
Folgt man Ullmanns Schaffenseifer von Raum zu Raum, kommt man ins Staunen: Auf vom Bauhaus inspirierte Werbegrafiken für die Möbelfirma Thonet, humorvolle Plakate für das Stadttheater Zürich oder konstruktivistische Foto-Collagen zum Thema Technik und Maschine folgen um 1940 blockhaft-wuchtige Möbel für die Familie ihrer Schwester in Florenz, die an den klar reduzierten Stil der Wiener Werkstätte erinnern.
Die Entwürfe zeigt die Wessenberg-Galerie in einem aufwendig inszenierten Kabinett zusammen mit rundem Tisch und Bogenlampe aus graviertem Zinn, die Ullmann ab 1960 in ihrem Münsteraner Atelier „My Studio“ schuf.
Als in den späten 50er-Jahren der Bauboom einsetzt, eröffnen sich für Ullmann neue Arbeitsfelder. Zahlreiche Aufträge für Kunst am Bau prägen ihre späte Schaffenszeit bis Ende der 60er-Jahre. Stilisierte Tier- und Pflanzenmotive zieren die Wandbilder aus Putz, Glas und Metall für die Universitäts-Kinderklinik in Münster von 1960. Die Bewegungssequenzen eines angreifenden Panthers bannt Ullmann 1962 auf ein Betonrelief in der Bundeswehrkaserne Borken. Spiralen-Dynamik im Raum sind das Thema großer Wandarbeiten in der Nervenklinik Bonn und für die VIAG in Bonn.
In der Ausstellung zeugen Entwürfe und Fotografien von den heute größtenteils zerstörten Werken. Indem Ullmann in all diesen späten Arbeiten das Moment der Bewegung auf der Fläche und im Raum als zentrales Motto wieder aufgreift, schließt sich der Kreis zu ihren kinetischen Anfängen.
Hier wird die Künstlerin lebendig
Überblickt man Ullmanns Schaffen, so entfaltet sich ein breites stilistisches Spektrum zwischen Expressionismus, Kubismus, Konstruktivismus und Art déco. Die ambitionierte und sorgfältig kuratierte Ausstellung, die von einem umfangreichen Katalog begleitet wird, lässt Leben und Wirken einer Künstlerin lebendig werden, die zeitlebens neue Herausforderungen suchte und sich mit experimentierfreudigem Elan erfolgreich in der Epoche der Moderne positionierte.
So bietet die Schau die Wiederentdeckung einer unangepassten Künstlerin, die eigenwillig und eigenständig ihren Stil zwischen Expression und Fantasie, Gegenstand und Abstraktion, freier und angewandter Kunst vorantrieb. Ebenso wird offensichtlich, dass die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts noch längst nicht auserzählt ist, sondern gerade und vor allem bei Künstlerinnen noch immer große Überraschungen und echte Entdeckungen bereithält.
„My Ullmann – Bilder, Bühne, Kunst am Bau“: bis 7. Januar 2024 in der Städtischen Wessenberg-Galerie in Konstanz. Geöffnet Dienstag bis Freitag 10-18 Uhr, Samstag und Sonntag sowie an Feiertagen 10-17 Uhr.