Kunst, notierte Johannes Grützke einmal, sei pure Tarnung. Wer auch nur einige Werke des Berliner Künstlers, egal ob Malerei oder Bildhauerei, nach dieser Maxime abklopft, der wird rasch fündig. Beispielsweise bei seiner Version des Konstanzer Hecker-Zugs von 1848.
Der Revolutionär Friedrich Hecker gleicht auf der dreiteiligen Majolika-Arbeit „Morgen brechen wir auf“ an der Ostfassade des Konstanzer Bürgersaals, der ehemaligen Franziskanerkirche, dem kühnen Hecker, aber eben auch dem Menschenfreund Grützke.
Es ist, wie gesagt, nicht die einzige Tarnkappe, die sich der 2017 verstorbene Künstler aufsetzte. Nicht umsonst begründete er die auf ironische Provokation angelegte „Schule der neuen Prächtigkeit“ mit. Wer sucht, der findet ihn auch in seinem Wandbild für die Frankfurter Paulskirche, der Wiege der deutschen Demokratie.
In diesem monumentalen Werk (3 mal 32 Meter), das er zwischen 1989 und 1991 ausführte, stellte Grützke seinen Sinn für das Himmelhoch-jauchzend-zu-Tode-betrübt unter Beweis. Genial verknüpfte er in diesem traurigen „Zug der Volksvertreter“ die gescheiterten Hoffnungen der 1848er-Revolution mit der Politikverdrossenheit des ausgehenden 20. Jahrhunderts.
Aber zurück zur Konstanzer Majolika-Arbeit Grützkes, die im Sommer 1998, also vor 25 Jahren, vor reichlich Publikum auf dem Stephansplatz enthüllt wurde, und die thematisch an das große Frankfurter Wandbild anschloss. Oder auch nicht. Denn im Fokus des immerhin sieben Meter langen dreiteiligen Wandreliefs – ein Teilstück haben inzwischen Kletterpflanzen erobert – steht nur die legendäre Versammlung der republikanischen Revolutionäre, die lauthals nach der Republik geschrien hatten.
Warum die Wahl auf Konstanz fiel
Zur Erinnerung: Hecker wollte seinen Traum von einer Deutschen Republik von Konstanz aus verwirklichen. Warum Konstanz? „Hier lag damals kein Militär, man konnte von hier aus also ungestört einen revolutionären Zug starten“, erklärt Tobias Engelsing. Der Direktor der städtischen Museen zeigt im Kulturzentrum am Münster eine Sonderausstellung zum Thema.
In einer am 12. April 1848 einberufenen Versammlung vor dem Bürgerhaus forderte Hecker, der „Liebling des Volkes“ (Frankfurter Zeitung, 1881), die Konstanzer Bevölkerung zum bewaffneten Widerstand gegen den Großherzog auf: „Sieg oder Tod für die deutsche Republik.“ Bereits im September 1847 hatte er in Offenburg die „Forderungen des Volkes“ proklamiert. Zu den 13 Thesen zählten Presse- und Versammlungsfreiheit. Während in London von Karl Marx und Friedrich Engels der Bund der Kommunisten gegründet wurde, hieß es bei Hecker: „Wir verlangen Ausgleichung des Missverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit.“

Lediglich 55 Konstanzer folgten dem Aufruf des Mannheimer Anwalts. Franz Sigel, militärischer Führer des Zuges, kehrte im Auftrag Heckers noch einmal in die Konzilstadt zurück und konnte weitere 250 Bürger zum Mitmachen bewegen. Auf dem Marsch nach Stockach und von dort nach Engen wuchs die Schar der Freischärler weiter an. Aus dem 1500-Einwohner-Dorf Singen stieß die ganze Bürgerwehr, etwa 200 Mann, zu Sigels Kolonne, alle einheitlich gekleidet in grauer Kleidung mit Filzhüten. Im benachbarten Eigeltingen feuerten die Bauern Böllerschüsse ab und schlossen sich mit zwei Kanonen dem Zug an. Die Kanonen stammten vom großherzoglichen Schloss Langenstein.
Südbaden war in Aufregung. Aber der Aufruhr endete bekanntlich schneller als erwartet. Am 23. April 1848 wurden die Freischärler im Kampf mit den Bundestruppen geschlagen. Hecker, der schon zu Lebzeiten auf Andenken, Porzellantellern und Zuckerkuchen verewigt wurde, floh in die Schweiz. Wenig später emigrierte er in die USA, wo er am Sezessionskrieg teilnahm. Hecker starb am 24. März im 70. Lebensjahr in Summerfield im Bundesstaat Illinois.

Wegen des feuchten Seeklimas sah Grützke in Konstanz vom Fresko ab, das er noch in der Paulskirche anwandte, und setzte auf Keramik. Die Bilder schuf er 1997 in der Staatlichen Karlsruher Majolika. Da die Farbpalette in der Keramik erheblich schmaler ist – der Künstler arbeitete mit 16 Farben – leistete Grützke durch hohe Plastizität einen visuellen Ausgleich.
Das Konstanzer Revolutionsgeschehen, das er zuvor auf sieben Bahnen in Originalgröße skizzierte, die mehr künstlerische Nuancierungen gegenüber der Keramik zulassen, aber dennoch stilistisch und farblich plakativ gebelieben sind, wird daher in einem Relief erzählt.
Die Freiheit als Nackte
Wie in Frankfurt sind die Leute aus dem Volk mit übergroßen Köpfen und dicken Rotnasen ausgestattet. Das ist eine Demonstration des kritischen Realismus‘ Grützkes, der für eine Übersteigerung ins Groteske und Gewaltige berühmt war. Lächerlich wirken die ineinander verkeilten Gestalten, die an Karikatur-Physiognomien von Honoré Daumier erinnern, aber keineswegs. „System Girlande“ nannte Grützke diese Darstellungskunst einer Reaktionskette unter menschlichen Figuren, die im linken Teil des Werks als etwas ängstlich-verdruckte Zuhörer das Format ausfüllen.
Im Mittelteil des Triptychons zeigt Grütze den schwarzbärtigen „edlen Hecker“, wie ihn Martin Walser in seinem gleichnamigen Buch von 1998 nannte und das mit zehn Lithografien des Künstlers illustriert wurde. Mit großer Geste bietet der Rädelsführer die Einheit zum Gedenken an, deren Allegorie er als kleine Nackte mit Rubens-Formen auf der linken Hand balanciert. „Die Freiheit ist immer nackt“, sagte Grützke an anderer Stelle, und lässt uns dabei an Eugène Delacroix‘ berühmtes Revolutionsbild denken. Auch dort symbolisiert eine entblößte Frau die Freiheit.
Zu einem begehrten Foto-Objekt, wie es Peter Lenks „Imperia“ am Konstanzer Hafen darstellt, die in diesem Jahr ihren 30. Geburtstag feierte, hat es Grützkes Werk nicht gebracht. Aber das war weder die Intention des Künstlers noch die Überlegung der Initiatoren des Ganzen, überwiegend Konstanzer Bürger. Es ging beiden Seiten um seriöse Geschichtsarbeit, nicht um das Spektakel.
Das Kunstwerk wurde im Übrigen ohne öffentliche Gelder durch Spenden und durch von Grützke gestaltete Teller und Lithografien für den eigens gegründeten „Förderverein Wandbild 1848“ finanziert. Nahezu 300.000 Mark kamen auf diese Weise zusammen.
Als das Kunstwerk enthüllt wurde, war auch Grützke anwesend. Der Künstler, den Florian Illies als liebenswerten „Fachmann für Katastrophen und gescheiterte Ansprüche“ bezeichnete, hielt vom Balkon des Bürgerhauses, wie einst Hecker, eine Rede an das Volk. Darunter war auch der grüne Oberbürgermeister der Stadt Konstanz Horst Frank, der sich für das „Geschenk“ artig bedankte.
Was Grützke sagte? „Suchen wir den Widerstand, den wir brauchen, um zu sein wie Hecker: mutig, rechtschaffen, in der Sache konsequent.“ Das ist eine Botschaft, die auch uns Heutige angehen sollte.
Die Sonderausstellung „Jetzt machen wir Republik! Die Revolution von 1848/49 in Baden“ im Kulturzentrum am Münster in Konstanz dauert bis 7. Januar 2024. Weitere Informationen finden Sie hier.