Nichts ist in Ordnung. Martin Beck ist Kommissar, und in der gleichnamigen Krimiserie hat es der Mann längst nicht nur mit Verbrechen zu tun. Die Verletzungen gegen das Gesetz sind nur ein Teil seines Kampfes, gleichzeitig hadert er mit den gesellschaftlichen Normen. Er und sein Team sehen sich genötigt, selbst gegen Vorschriften und Regeln zu verstoßen, geraten in Konflikt mit Vorgesetzten, der Justiz und Politik – und geschieden ist Martin Beck sowieso.

Das Erfolgsrezept der TV-Reihe beruht auf Grenzverletzungen auf allen Ebenen, die bis in den Abspann verlängert werden. Da steht der einsame Mann für Recht und Ordnung auf dem Balkon seiner die Fassade von Bürgerlichkeit aufrechterhaltenden Stockholmer Wohnung, schwenkt ein Glas Cognac und möchte sich der melancholischen Hoffnung einer irgendwie doch noch heilbaren Welt hingeben.

Doch daraus wird nichts. Stets betritt auf dem Balkon der Nachbarwohnung ein schrulliger Typ mit Halskrause und getönter Sonnenbrille die Szene und redet Unsinn. Martin Beck und mit ihm der Zuschauer jedenfalls werden selten schlau aus dem Gerede, immerhin aber wird die Grenze hier nicht zur verschiebbaren Demarkationslinie. Das liegt daran, dass sich zwischen Balkon und Balkon ein Abgrund auftut, und Martin Beck tut gut daran, die Einladungen des schrägen Vogels auszuschlagen. Er weiß, dass zu viel Alkohol und Kopfweh die Folgen wären.

Grenzen können verbinden

Im normalen Leben sind es zum Glück keine Abgründe, die den Nachbarn vom Nachbarn trennen, ein Zaun oder eine Hecke tun‘s auch. Spießigkeit mag dabei der Dünger fürs Wurzelwerk sein, und der kleinbürgerliche Philister setzt möglicherweise den Pfosten für die Latten ein goldenes Krönchen auf, doch der Zweck heiligt allemal die Mittel. Wenn es um das Verhältnis zum Nachbarn geht, können ein paar Bretter vor dem Kopf von Nutzen sein, im besten Fall halten sich das Trennende und das Verbindende die Waage.

Mehr als die Haustür ist hier der Treffpunkt für den Austausch über die Vor- und Nachteile von Akku-Rasenmähern, die Verhandlungen über den beiderseits opportunen Heckenschnitt oder die Handreichungen einer üppigen Gemüseernte oder ins Kraut geschossener Salate.

Bei Zäunen ist die Grenze mit 1,80 Meter Höhe erreicht

Zugleich wird rüber- und abgeguckt, denn so ein Zaun oder eine Hecke machen zwanghaft interessant, was sich dahinter verbirgt. Gegrüßt wird mit Distanz, gern auch gelauscht, und jedes Astloch erinnert an die harmlose Spannung kindlicher Abenteuer im Freibad. Grenzen verbinden mehr als sie trennen, sagt beispielsweise der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann, und wer‘s genauer wissen möchte, lese seinen Essay über das Lob der Grenze.

Bei der Würdigung von Zaun und Hecke freilich mag auch ein Blick ins Bürgerliche Gesetzbuch genügen. Im Paragraf 903 findet sich der wunderbare Begriff der Einfriedung, der wiederum in direkter Korrespondenz mit jener als Abwehrmaßnahme beschriebenen Grenzbestimmung im Paragraf 910 steht. Frieden und Abwehr hängen dabei maßgeblich vom Gebot der Abstandswahrungen ab, die in den Landesbauordnungen festgelegt werden. Dabei gibt es zentimetergenaue Unterschiede. In Baden-Württemberg beispielsweise finden sich für Mauerhöhen keine Festlegungen, bei Zäunen dagegen ist die Grenze bei 1,80 Metern erreicht. Dennoch kann man sich in die Wolle geraten: Denn entscheidend ist nicht nur das Metermaß, Schlupflöcher gibt es über den Wert der Ästhetik, die übliche Praxis oder den Bestandsschutz.

Flucht vor obsessiver Gemeinsamkeit

Innerhalb der Einfriedung allerdings herrschen andere Gesetze, Bestimmungen und Übereinkünfte – es sei denn, man lebt wie Martin Beck für sich. Bei der Analyse, warum da einer das Weite sucht, haben Eheberatungen und Psychologen einen naheliegenden Grund zumeist nicht oder erst dann auf dem Plan, wenn sie ansonsten mit ihrem Latein am Ende sind. Es ist der vermaledeite Wahn des Teilens und der obsessiven Gemeinsamkeit, die keine Grenzen anerkennt und vom Partnerlook über die Anschaffung von Tandem-Fahrrädern bis hin zur allenthalben in Restaurants zu beobachtenden Manie reicht, bei der vom Tellerchen des anderen gegessen werden soll oder muss.

Insbesondere was die Mitesserei anbelangt, scheint es kein Gebot der Zurückhaltung zu geben, und wehe dem, der sich hier zum Zwecke guter Tischnachbarschaft auf die Abwehrmaßnahme des BGB-Paragrafen 910 beruft. Stets soll vom Gericht des Partners gegessen werden oder dieser möchte nur mal probieren, was der andere da eigentlich bestellt hat. Kaum gesagt, fährt die Gabel auch schon über den Tisch und spießt just jene Pommes auf, vor deren Verzehr noch kurz zuvor bei der Absprache der Bestellungen wegen des Gehalts gesättigter Fette eindringlich abgeraten wurde.

Und wehe, wer das Löffelchen Kürbissuppe als Kostprobe verweigert: Er oder sie setzt ernsthaft den Beziehungsfrieden aufs Spiel – ein Verhaltensmuster, das allem Anschein nach auch den diversen Lebensgemeinschaften standhält. Offensichtlich verankert Intimität die Friedenspflicht in einer Tiefe, bei der sich selbst der Gedanke an den Einsatz von Messer und Gabel zur Abwehr solcher Übergriffigkeiten verbietet.

Die letzte Bastion scheinheiliger Zweisamkeit

Während aber die Einverleibung zu Tisch längst und überall gang und gäbe ist, droht eine der letzten Bastionen der scheinheiligen Zweisamkeit zum Opfer zu fallen. Das Gräble im Doppelbett, im Fachjargon mit dem leicht pornös klingenden Begriff der Bettenritze umschrieben, ist in Gefahr, und nicht weniger anrüchig klingt die von Bettenherstellern angepriesene Lösung in Form von Ritzenfüllern. Der wahre Schrecken in der Besessenheit, alles bis in den Schlaf teilen zu müssen, aber sind Wasserbetten.

Als wäre mit der Teilhabe an Schnarchlauten, Leibeswinden und den blödesten Nachfragen der Beziehungskontrolle (“Schläfst Du schon?“) der Gemeinsamkeit nicht Genüge getan, soll die Grenzenlosigkeit bis in die Wendung der Pommes-Plauze oder des Donnerschenkels ausgeweitet werden. Geht‘s eigentlich noch? Und warum liegen in den Sozialwissenschaften bislang noch keine empirischen Erkenntnisse über den Einfluss von Wasserbetten auf die Scheidungsquote vor?

Bei ihren Studien stießen die Forscher dann möglicherweise auf das Honorificum als Alternative zur Bettenritze. Anders als der Wortlaut vermuten lässt, handelt es sich hierbei um nichts Unanständiges – im Gegenteil. Dahinter verbirgt sich die bis weit ins 19. Jahrhundert durchaus gebräuchliche und leider komplett aus der Mode geratene Höflichkeitsform der Anrede des Ihrzens oder Siezens in privaten Lebensgemeinschaften.

Wer vor diesem pluralis majestatis zurückscheut, versuche es der Gaudi halber aber zumindest einmal mit ehrenden Titeln: „Darf ich meiner Königin einen Gute-Nacht-Kuss geben?“ oder die Ansprache als Herzensprinz funktionieren in aller Regel als Passierschein übers Gräble, lässt selbst die Lächerlichkeit von Pyjamas und Nachthemden vergessen und wahrt zugleich respektvolle Distanz.