Herr Sfar, Ihr Buch „Die Synagoge“ handelt von Ihrer Jugend in den 1980er-Jahren in Nizza. Damals boten Sie Ihrem Vater an, die Synagoge zu bewachen, um nicht mit ihm im Inneren beten zu müssen.
„Die Synagoge“ ist eine sehr konstruierte Autobiografie. Alles ist wahr, aber damit die verschiedenen Protagonisten nicht erkennbar sind, habe ich manchmal zwei, drei echte Personen zu einer Figur verwoben, zum Beispiel die Skinheads. Es kam mir manchmal so vor, als schriebe ich einen historischen Roman, da alles lange zurückliegt.
Ich hatte das Glück, in einer sehr kosmopolitischen Umgebung aufzuwachsen. Mein Großvater mütterlicherseits war ein ukrainischer Jude, der im Krieg gekämpft hatte und dafür die französische Staatsbürgerschaft erhielt. Seine Freunde waren Libanesen, Iraner, Polen, die alle in Nizza gelandet waren. Das hat mich geprägt.
Wie entstand der Wunsch, über diese Zeit Ihres Lebens zu schreiben?
Ich lag nach einer Corona-Infektion sehr geschwächt im Krankenhaus. Um wieder Energie zu bekommen, hörte ich mir Gespräche mit Joseph Kessel an, einem großen Reporter, Abenteurer und Résistance-Kämpfer. So bekam ich Lust, ein Buch über die Männlichkeit zu machen. Als Jugendlicher war ich selbst in Schlägereien verwickelt, so als müsste ich irgendetwas beweisen.
Ich wuchs im Schatten eines Großvaters auf, der eine Karikatur der Männlichkeit, ein großer Macho war, und von meinem Vater, einem Juden aus Algerien. Später in Frankreich bekämpfte er die Rechtsextremen und brachte als Anwalt Neonazis ins Gefängnis. Die Deutschen sind ja sehr sensibilisiert, was den Rechtsextremismus angeht, die Franzosen weniger. Daher vielleicht die Botschaft meines Buches.
Was ist denn die Botschaft?
Ich träumte davon, mich mit Neonazis zu schlagen, doch sobald ich mal eine Stunde mit ihnen verbrachte, waren sie eigentlich ziemlich nett. Einfach junge Leute, die ein wenig aufmucken wollten. Der echte Schrecken im Buch kommt, als all die braven Leute in Nizza bereit sind, einem Rechtsextremen wie Jean-Marie Le Pen zu applaudieren. Die wahre Gefahr geht nicht von politischen Aktivisten aus, sondern von der schweigenden Mehrheit ab dem Moment, in dem sie bereit ist, einem extremistischen Weg zu folgen.
Sehen Sie einen solchen Moment auch aktuell? In Frankreich ist die Rechtsextreme Marine Le Pen heute stärker, als ihr Vater je war.
Ich mag meinen Lesern nicht erklären, was sie denken sollen. Lieber erzähle ich einfach und jeder soll dann selbst entscheiden. Was die Situation der Juden in Frankreich angeht, so ist sie sehr beunruhigend. Die antisemitischen Taten nehmen zu. Leider müssen alle jüdischen Orte schwer bewacht werden, übrigens auch das Museum für Jüdische Kunst und Geschichte in Paris, von dem aus ich mit Ihnen spreche und das gerade Werke von mir ausstellt.
Es gab eine Zeit, als die Bedrohung für die Juden nur von extrem rechts kam. Heute kommt sie von überallher, auch von extrem links. Beim Judenhass gibt es inzwischen eine Art Konsens.
Wie bewerten Sie das Echo in Frankreich auf die schwere Krise im Nahen Osten?
Was mich nach den Massakern vom 7. Oktober schockierte, war das absolute Schweigen vieler Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen. Die wenigen, die so wie ich im Fernsehen geredet haben, wurden beschimpft und bedroht.
Die Hamas zielte darauf ab, in der ganzen Welt Leute mitzureißen, die wollen, dass die Massaker an den Juden wieder losgehen. Das reicht über den israelisch-palästinensischen Konflikt hinaus. Kaum jemandem fiel auf, dass die propalästinensischen Demos nicht beim israelischen Gegenschlag angefangen haben.
Sondern?
Sie begannen mit viel Enthusiasmus am Tag nach dem Massaker. Es gibt unter den Propalästinensern ein absolut respektables Lager, das Israel dazu aufruft, internationales Recht zu achten und das ein Gebiet für die Palästinenser fordert, in dem sie leben können. Dafür braucht es Gespräche, die Ägypten und Jordanien mit einbeziehen, all die Länder, die ihnen seit 75 Jahren auch keinen Platz gewähren wollen. Und dann gibt es das Lager, das die rund sieben Millionen Juden in Israel loswerden will. Das ist nicht akzeptabel.
Auch Sie selbst haben dort Familie. Wie geht es ihr?
Ich bin Franzose, aber meine Familie väterlicherseits lebt in Israel. Meine jüngeren Cousins sind dort in der Armee und gehörten zu jenen, die die Kibbuzim im Süden des Landes nach den Massakern befreiten und Zeugen von Scheußlichkeiten wurden.
Ich würde mir wünschen, dass vor allem unserer Jugend klar wird, dass man sich das Überleben und den Frieden für das palästinensische und das israelische Volk zugleich wünschen kann. Seit 30 Jahren setze ich mich für einen palästinensischen Staat ein. Aber heute ist eine propalästinensische Demonstration für Juden verboten. Wenn ich dorthin gehe, und in Frankreich kennt man mein Gesicht, werde ich zusammengeschlagen.

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass sich gerade ein großer Teil der jungen Leute so klar auf eine Seite, jene der Palästinenser, stellt?
Wir haben es seit Jahrzehnten zugelassen, dass viel Unsinn über den Nahen Osten erzählt wurde. Seit Langem heißt es, dass die Juden Weiße sind, die 1948 aus Europa kamen, um ein Land zu stehlen, das ihnen nicht gehört. Aber das stimmt nicht. 1948 mussten 700.000 Palästinenser aus Israel fliehen und zugleich floh eine Million Juden aus arabischen Ländern. Diese Bevölkerungen haben sich heute vervielfacht. Mehr als 60 Prozent der Juden in Israel sind Misrahi-Juden, die seit der Antike dort leben.
Der israelisch-palästinensische Konflikt gründet im Ende des britischen Reiches, an dessen Ende die Engländer den Juden und den Arabern dasselbe Land versprachen. Doch Geschichte zu erklären, kostet Zeit. Die sozialen Netzwerke sind nicht der richtige Ort, um sich eine Meinung über ein komplexes Thema zu bilden. Ich ermutige alle, X (ehemals Twitter) ein wenig den Rücken zu kehren und Bücher beider Seiten über die Region zu lesen.
Erhalten auch Sie selbst Polizeischutz?
Nein, ich versuche, nicht verrückt zu werden. Frankreich hat ein Riesenglück. Wir haben die größte muslimische und die größte jüdische Gemeinschaft in Europa, wenn auch nicht in derselben Zahl, da es letztlich sehr wenige Juden sind. Hier wäre eigentlich der ideale Ort für den Dialog zwischen diesen Gemeinschaften.
Ich bin stolz darauf, ein maghrebinischer Jude zu sein. Der große Erfolg meiner Comic-Reihe „Die Katze des Rabbiners“ seit 30 Jahren wurzelt in der Geschichte von Juden, die den Arabern ähneln. Die vernünftigen Menschen machen leider sehr viel weniger Lärm als die Aufgestachelten.
Wie kam es zu dieser Entwicklung?
Die Juden und die Araber werden ständig wie Symbole behandelt. Heute Muslim in Frankreich sein, heißt, sich von morgens bis abends für alles zu rechtfertigen. Zum Glück finden wohl sehr wenige Muslime Massaker wie jenes vom 7. Oktober gut. Aber ihnen wird eine Verantwortung übertragen, ein Schuldgefühl für alles, was im Nahen Osten passiert.
Auch Frankreich hat eine komplexe Geschichte zwischen dem Kolonialismus in Nordafrika und seiner Rolle im Zweiten Weltkrieg. Als ich aufwuchs, war das Jüdisch-Sein eine von vielen Identitäten. Ich bin nicht religiös, das Judentum hat für mich in erster Linie kulturelle Bedeutung. Es interessiert mich nur, wenn es dem Dialog dient. Aber nicht, wenn es nur darum geht, sich auf sich selbst zurückzuziehen.
Wie blicken Sie in die Zukunft? Mit Pessimismus oder mit Hoffnung?
Mein Vater war Jurist, er sagte immer: Wenn du beim Konflikt zwischen Israel und der arabischen Welt den Hass aller auf dich ziehen willst, rede vom internationalen Recht. Er sagte, das Recht ist wie Gott: Man glaubt nicht daran, aber etwas anderes haben wir nicht. Irgendwann werden sie miteinander reden müssen, und dann braucht es einen juristischen Rahmen.
Ich fahre oft nach Israel, weil ich dort ein Projekt für eine TV-Serie habe. Unter den Schauspielern sind viele Palästinenser. Individuell gibt es keine Probleme zwischen den Menschen. Es handelt sich um einen historischen, territorialen Konflikt und die Schwierigkeit, die Sichtweise jeder Seite anzuhören. Anstatt den anderen reden zu lassen, sagt man sofort, dass er Unrecht hat. Doch wenn ein Konflikt 75 Jahre alt ist, gibt es Wahres in beiden Sichtweisen.