Die Statistik kennt nur wenige Ausnahmen. Egal ob in Großbritannien oder Frankreich, Österreich, Belgien oder Luxemburg – so gut wie überall gehen die Menschen früher in Rente als vom Gesetzgeber vorgegeben.
In Irland beispielsweise konnten Männer im Jahr 2020 mit 66 Jahren in Rente gehen, faktisch aber war für sie mit 63,6 Jahren und somit rund zweieinhalb Jahre vorher Schluss mit der Arbeit. In Deutschland sieht es ähnlich aus. 2020 lag das gesetzlich festgelegte Rentenalter bei 65,7 Jahren, tatsächlich begann für Männer mit 63,1 und Frauen mit 63,2 Jahren der Ruhestand.
Zu den Ausnahmen zählt Schweden. Hier legten die Frauen bei einem gesetzlich festgelegten Renteneintrittsalter von 65 mit 64,9 Jahren fast eine Punktlandung hin, die Männer arbeiteten im Schnitt mit 65,8 Jahren sogar deutlich länger als sie müssten. Das verwundert nicht zuletzt deshalb, weil die Schweden im europäischen Vergleich ökonomisch komfortabel ausgestattet sind. Sie könnten locker vorzeitig in Rente gehen, tun es aber nicht.
Warum ist das so? Der Augenschein legt eine einfache Antwort nahe. In Schweden haben die Menschen offensichtlich ein entspanntes Verhältnis zur Arbeit. Allein die Anzahl und Dauer der Kaffeepausen böte Unternehmensberatungen hierzulande ein weites Feld für Rationalisierungsphantasien. Dabei gibt es längst neurologische Erkenntnisse zu den Kipp-Punkten von effizienter Arbeit.
Demnach macht es gar nichts, wenn ein guter Teil der Arbeitszeit als Freiraum fürs Miteinander zur Verfügung steht, wohingegen ein übermäßiger Druck auf eine möglichst hohe Arbeitsverdichtung auf Dauer die Gefahr von Stress und Erkrankungen, inneren Kündigungen und eines generellen Abers gegenüber der Arbeit birgt.
Der Umkehrschluss: Wer gern zur Arbeit geht, ist einigermaßen gewappnet gegen die Illusion, dass mit der Rente das Paradies auf Erden beginnt. In Schweden weiß man, dass sie die Hölle sein kann, und längst hat die Politik darauf reagiert. Das Einsamkeitsministerium ist zwar nicht primär als Anlaufstation für Senioren gedacht, sondern kommt dem Bedarf einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung nach; dennoch stellen ältere Menschen bei einer Lebenserwartung von deutlich mehr als 80 Jahren eine beachtliche Zielgruppe dar.
Und offensichtlich wissen die Schweden, was ihnen nach dem Berufsleben blühen kann. Bei der Wahl zwischen der Einbindung in ein sozial ausgerichtetes Arbeitsleben und der Einsamkeit in der Dunkelheit nordischer Nächte, wird im Zweifel lieber das ein oder andere Jahr ans Berufsleben gehängt.
Im Rest von Europa schlägt die Politik einen anderen Weg ein und Frankreich steht dabei im Fokus. Das Volk demonstriert für den Erhalt der frühen Rente als dem vermeintlich selig machenden Dasein nach einer jahrzehntelangen Phase der Entfremdung. Politik und Wirtschaft dagegen gefallen sich mit Verweis auf die Finanzierbarkeit in der Rolle des aufrechten Buchhalters.
Im eher konfliktscheuen Deutschland behilft man sich derweil mit Flatulenzen. Da wird einerseits die abschlagsfreie Rente ab 63 durchgeboxt und andererseits fürs Arbeiten jenseits von 67 geworben – und beide Seiten können sich argumentativ auf den Bundeskanzler berufen.
Senioren stürmen die Hörsäle
Das aktuelle Hauen und Stechen ist aus der jeweiligen Perspektive nachvollziehbar und führt doch in die falsche Richtung. Als Beleg genügt die Vorstellung, dass sich eine der beiden Seiten durchsetzte, wobei die Gegner eines späteren Rentenbeginns längst nicht nur das überstrapazierte Beispiel vom Dachdecker bemühen müssen.
Wer möchte schon gern beim Flug in den Urlaub von einem 67-jährigen Piloten begrüßt werden und wie fühlt es sich an, wenn bei einer OP die Alterscrew zu Skalpell und Tupfer greift? Es gibt Beispiele zuhauf für die argumentative Bredouille – etwa wenn ab 70 Jahren die Abgabe des Führerscheins angeraten erscheint, zugleich aber Busfahrer bis zu dieser Altersgrenze ihren Job machen sollen.
Ebenso befremdlich ist die Vorstellung einer wachsenden Heerschar von Rentnern. Schon jetzt gibt es Bilder zum Gruseln: Da reiht sich das späte Vaterglück des angehenden Tattergreises an den Sturm von Senioren auf die Hörsäle, doch der Traum von der Selbstverwirklichung endet über die Umwege der Peinlichkeit und der alljährlichen Kreuzschifffahrt ins Warme nicht selten in der Altersdepression.
Im Übrigen bietet das Gefühl der Überflüssigkeit einen guten Nährboden für die Ausbreitung der Spezies des Kampfrentners. Man begegnet ihm in den Supermärkten, man kennt ihn von Stammtischen, an denen Strategien für den Krieg in der Ukraine entwickelt werden, oder aus den Nachrichten, wenn randständige Blaublüter auf der Basis der irren Fantasie einer Reichsbürgerschaft noch mal so richtig Staat machen wollen. Wer Zeit hat, macht sich eben so seine Gedanken, doch wirklich zu sagen hat man nichts mehr und dieser Frust macht sich zwangsläufig irgendwann Luft.
Das alles freilich ändert nichts daran, dass Arbeit und Rente die beiden Seiten einer Münze bleiben. Zumal die Frührente ist dabei Teil einer inflationären Entwicklung von Fluchtreflexen aus der Arbeit.
Früher genügte dafür der Urlaub – es waren die schönsten Wochen des Jahres und primär gedacht für die Erhaltung der Arbeitskraft. Inzwischen braucht‘s für den Exodus aus der Arbeit eine komplexe Kartierung. Elternzeit, Sabbaticals, Teilzeit und Viertagewoche, Homeoffice oder auch die gelegentliche feststellbare generelle Scheu junger Menschen vor dem Einstieg ins Berufsleben gehören zu diesem Wegeplan der Work-Life-Balance.
Individuell sind diese Fluchtbewegungen ebenso verständlich, wie es an der Sinnhaftigkeit von freien Zeitkorridoren während des Berufslebens für andere gesellschaftliche Aufgaben wie die Pflege von Angehörigen oder die Erziehung von Kindern keinen Zweifel gibt.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass ein beachtlicher Anteil dieses Konstrukts auf dem Stigma der Arbeit und dem gleichzeitigen Prestige von Freizeit sowie eines bis in den Kitsch verfremdeten privaten Lebensbereichs beruht. Wer‘s nicht glaubt, darf sich gern im Fernsehen bei den Vorabendserien schlau machen.
Auf Dauer tut das keinem der beiden Lebensbereiche gut. Es ist nicht sinnvoll, sie in Himmel und Hölle aufzuteilen, eher geht es um Kopf oder Zahl – entscheidend in beiden Fällen ist die Sinnstiftung. Geleistet werden muss sie im Alltag sowohl von den Beschäftigten wie von den Rentnern. Beide Sphären lassen sich durchaus vernetzen: Pilot oder Busfahrer mögen in ihrem angestammten Beruf ausgedient haben, als Ausbilder aber bringen sie Voraussetzungen wie sonst niemand mit. Man sollte mal darüber reden – vielleicht in einer Kaffeepause.