Im modernen Management gibt es den Begriff der Vanity Metrics, zu Deutsch sinngemäß „eitle Ziele“. Es handelt sich dabei um statistische Kennzahlen, die gut aussehen lassen, was gut aussehen soll. In der Außendarstellung ist dieser Effekt sehr willkommen: Kann man damit doch prima Kunden zum Kauf von Produkten überreden, die besser scheinen, als sie wirklich sind.

Intern dagegen sind Vanity Metrics gefürchtet. Gelingt es einer Abteilung, ihre eigentlich schlechten Erfolgskennzahlen schönzurechnen, so kann es für das Unternehmen böse enden.

Zu schön, um wahr zu sein

Anzeichen von Vanity Metrics waren in den vergangenen Wochen auch in der – sonst nicht gerade zahlenfixierten – Kulturszene zu finden. Es handelte sich um Interpretationen der offiziellen Coronazahlen, die zu schön anmuteten, um wahr zu sein: Daten, wonach es bei Hochzeiten und Geburtstagen erhebliche Infektionsraten gab, nur verschwindend geringe dagegen bei Konzerten oder Theaterabenden. Im Theater, so lautete die vielfach in den sogenannten sozialen Netzwerken verbreitete Schlussfolgerung, sei man offenbar weitaus sicherer als zuhause. „Geht unbedingt ins Theater!“, hieß es. „Bloß nicht zuhause bleiben!“

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In Wirklichkeit ist die Lage komplizierter. So verraten die offiziell ermittelten Infektionsketten nur einen Teil der Wahrheit. Für Gesundheitsämter, erklärt der Medizinstatistiker Gerd Antes, sei es schlicht viel schwieriger, Ansteckungswege im öffentlichen Raum nachzuvollziehen als im privaten Kreis, wo alle miteinander bekannt, leicht ermittelbar und guten Willens sind. Welche gesundheitlichen Risiken von Kulturveranstaltungen tatsächlich ausgehen, kann niemand wirklich zuverlässig sagen.

Verschiedene Grade von Verantwortung

Beispiele wie ein dieser Tage ausgerichtetes Jazzfestival mit „freiwilligen Infektionsgemeinschaften“ zeigen, dass Verantwortungsbewusstsein sehr wohl auch in der Kulturszene unterschiedlich verteilt ist. Hinzu kommt, dass insbesondere in Großstädten der Besuch von Kulturveranstaltungen mit einer Nutzung des Personennahverkehrs einhergeht. Und nicht zuletzt ist bei öffentlichen Veranstaltungen grundsätzlich die von ihnen ausgehende Signalwirkung zu berücksichtigen.

Es wäre also allzu bequem, der Politik bei ihrer Entscheidung, Theater und Konzerthäuser zu schließen, Leichtfertigkeit zu unterstellen. So bitter es ist: Gerade Kulturschaffende müssen jetzt beweisen, dass sie nicht anfällig sind für die Versuchung des populistischen Vereinfachens.

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Und doch, das Gesamtkonzept bietet aus Sicht von Kulturschaffenden zu viele Widersprüche. Das fängt schon an beim Faktor Signalwirkung, der auffallend oft bei der Kultur und auffallend selten im Profisport ausgemacht wird. Mag auch die Fußball-Bundesliga fortan vor leeren Rängen stattfinden: Vor den Fernsehbildschirmen werden weiterhin zahlreiche Kinder und Jugendliche Fußballern beim Abklatschen und Umarmen zuschauen. Man darf sich nicht wundern, wenn bei vielen Kulturschaffenden der Eindruck vorherrscht, hier werde mit zweierlei Maß gemessen.

Mehr Differenzierung

Vor allem Theater haben massiv in ihre Hygienesicherheit investiert, das gilt insbesondere für Belüftungssysteme. Zwar ist nachvollziehbar, dass allgemeine Verordnungen niemals auf die individuellen Bedingungen einzelner Häuser im Speziellen eingehen können. Allerdings unterlagen viele der in den vergangenen Monaten getätigten Investitionen auch einer behördlichen Überprüfung.

Es liegen also Daten vor, die eine Unterscheidung erlauben müssten zwischen Gebäuden mit modernen Lüftungssystemen und solchen, die noch unzureichend ausgestattet sind. Zumindest dieser Grad an Differenzierung wäre wichtig gewesen, um verantwortungsbewusste Kulturveranstalter zu belohnen.

Karin Becker, die Intendantin des Theaters Konstanz, bei einer Demonstration in Konstanz am Mittwoch.
Karin Becker, die Intendantin des Theaters Konstanz, bei einer Demonstration in Konstanz am Mittwoch. | Bild: Scherrer, Aurelia

Und schließlich: Auch die Politik bedient sich nur zu gerne der Vanity Metrics. Was waren nicht alles für großspurige Hilfsprogramme angekündigt worden: „Corona Soforthilfe“, „Neustart Kultur“! Angekommen ist davon vor allem bei zahlreichen freien Künstlern viel zu wenig. Es wird Zeit, dem bloßen Schein endlich Scheine folgen zu lassen.

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Es liegt auch an den Kulturschaffenden selbst, sich politisch stärker einzubringen und die eigenen Interessen lauter zu artikulieren. Zu oft verhindern noch immer persönliche Befindlichkeiten ein solidarisches Auftreten gegenüber der Politik. Einen ersten Anfang hat der Jazztrompeter Till Brönner mit einem bemerkenswerten Videobeitrag gemacht. Wenn sich Künstler in der Kunst des Lobbyismus auch nur annähernd so gut entwickeln wie die Vertreter des Profifußballs, dann braucht ihnen vor einem Lockdown nicht mehr bange sein.