Seit am 24. Februar mit den ersten Raketeneinschlägen in Kiew auch das Weltbild vieler Deutscher zu Bruch ging, rollt eine Welle der Empathie durchs Land. Kirchtürme erstrahlen in Blau und Gelb, Bundestagsabgeordnete spenden dem ukrainischen Botschafter stehend Beifall, Künstler singen für den Frieden.
Wohl noch nie zuvor hat unsere bundesdeutsche Gesellschaft in so kurzer Zeit so kollektiv so starke Emotionen für eine Kriegspartei aufgebracht. Ist das ein gutes Zeichen?
Ja, wenn man die enorme Spendenbereitschaft und das hohe Engagement in der Flüchtlingshilfe betrachtet. Auch der zwar überfällige, aber gleichwohl bemerkenswert rasche Bewusstseinswandel hinsichtlich unserer eigenen Bedrohungslage dürfte sich emotionaler Betroffenheit verdanken. Und doch, dem Gefühlsüberschwang wohnen Gefahren inne.
Dunkle Seite der Empathie
Solidarität und Mitgefühl für die Schwachen, Wut und Empörung für den Unterdrücker: Was im Alltag für ein gutes Miteinander unabdingbar scheint, ist in Kriegszeiten mit Vorsicht anzuwenden.
Im Gegensatz zum öffentlich vorherrschenden rein positiven Empathie-Verständnis sprechen Kognitionswissenschaftler auch von einer dunklen Seite unserer Gefühle. Empathie, sagen sie, könne den Blick auf die Wirklichkeit vernebeln, zu falschen Schlüssen verleiten, den Weg zu Kompromissen verbauen.
Es gibt Anzeichen dafür, dass Spuren davon in der Spitzenpolitik angekommen sind. Das gilt etwa für die Bezeichnung des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin als „mörderischer Diktator“ und „Kriegsverbrecher“, wie es US-Präsident Joe Biden unterlaufen ist.
Erfahrene Diplomaten warnen vor derart gefühlsgetriebener Rhetorik. „Wir müssen in der Sprache maßvoll bleiben, selbst wenn unsere Wut groß ist“, betont der ehemalige Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger. Denn so schwer erträglich die Vorstellung auch sein mag: Ohne gesichtswahrende Lösung für Putin wird sich ein diplomatischer Ausweg aus dem Krieg nicht finden lassen.
Gerade Demokraten sollten wissen, dass das Richtige und Gute nur selten unverdünnt erhältlich ist. Wer die Tür zum Kompromiss – wie schmutzig er auch ausfallen mag – wutentbrannt zuknallt, riskiert umso größeren Schaden.
Zwischen notwendiger Betroffenheit einerseits und irrationalem Pathos andererseits verläuft ein schmaler Grat. Dass wir immer weiter an den Rand dieses Grats geraten, verdanken wir einer digitalen Aufmerksamkeitsökonomie, die aus Emotionen ihren Treibstoff bezieht.
So kommt es, dass sich nun auf den Profilen sogenannter sozialer Medien Ukraine-Fähnchen in eine Statementkultur fügen, die Themen wie Gleichberechtigung, Terrorismus, Fußballvereine zu einem unterschiedslosen Haltungsbrei vermengt.
Riskanter Kitsch
Die Risiken einer solchen – freilich aus besten Absichten erfolgten – Relativierung und Verkitschung von Krieg sind zahlreich. Vergleichsweise harmlos wäre noch die irrige Erwartung potenzieller Gastgeber, statt schwer traumatisierter Flüchtlinge kämen mehr oder weniger erholungssuchende Urlauber.
Brandgefährlich wird es dagegen, wenn eine emotional bewegte Öffentlichkeit Regierungspolitiker zu moralisch geboten scheinenden Handlungen drängt: Ein Kriegseintritt der Nato mit all seinen unabsehbaren Folgen ist umso wahrscheinlicher, je mehr die unstreitig grauenhaften Bilder des Leids zur primären Richtschnur von Entscheidungen werden.
Es ist nicht leicht, ein angemessenes Verhältnis zur emotionalen Dimension des Kriegsgeschehens zu finden. Vielleicht besteht der zuverlässigste Prüfstein für die eigene Haltung im Blick zurück: Vor nicht einmal zwei Monaten musste die ukrainische Germanistin Alla Paslawska im „Tagesspiegel“ noch erklären, warum wir Deutsche im Gegensatz zu Russland so wenig Empathie für die Ukraine aufbringen können. Gefühle und Stimmungen sind wichtig – aber auch sehr flüchtig.