Herr Albert, selbst fröhliche Zeitgenossen finden die Zeiten schwer erträglich. Wie kann uns der christliche Glaube in unserer modernen Welt noch helfen? Das Alte und das Neue Testament sind Tausende von Jahren alt.
Die Herausforderungen, die wir haben, sind ja nicht neu. Als Menschen haben wir seit jeher und bis heute mit Krieg, Inflation, wirtschaftlichen Problemen und Epidemien zu tun. Das sind Probleme, die uns persönlich vielleicht erstmals begegnen, die Menschheit aber immer wieder beschäftigt haben.
Die meisten Coaches gehen ja eher in die Richtung Zeitmanagement oder Selbstoptimierung. Sie dagegen sagen: Leute, könnte es sein, dass euch vielleicht spirituell was fehlt?
Viele praktische Fragen des Alltags führen irgendwann zu spirituellen Fragen, auch wenn man sie nicht so benennen würde. Aber es geht um Sinn, Werte und Prioritäten: Was ist mir wirklich wichtig, wofür bin ich da, wonach richte ich Berufs- und Partnerwahl und andere Lebensentscheidungen aus?
In der Persönlichkeitsentwicklung und Beratung gibt es heute die Tendenz, das mit New-Age- und Esoterik-Konzepten zu beantworten, aber auch mit vermeintlichen Versatzstücken aus dem Buddhismus. Mir war es ein Anliegen, dem etwas dagegenzusetzen. Wir haben in unserer eigenen Geschichte und in unserem Kulturkreis spirituelle Antworten, die mindestens genauso gut sind.
Manches in Ihrem neuen Buch „9 Wahrheiten, die dich durchs Leben tragen“ erinnert mich eher an den Buddhismus, etwa der Satz „Leiden ist unvermeidbar, kann aber einen Sinn erhalten“.
Dieses zenartige Entschwinden des Leidens ins Nichts ist sicher kein christliches Konzept. Sondern eher, dass Leiden zur menschlichen Existenz gehört und einen Sinn hat. Das ist ein Kernthema des christlichen Glaubens, der mit Jesus auch ein personifiziertes Vorbild dafür hat.
Das schließt an persönliche Erfahrungen an, die jeder macht. Schließlich leidet jeder manchmal unter etwas, vom Liebeskummer über Enttäuschungen im Beruf bis zu schweren Erkrankungen oder einem Todesfall in der Familie. Man kann dem nicht entkommen, sondern muss damit umgehen und eine tiefere Bedeutung finden lernen.
Wir sind ja umgeben von einer kapitalistischen Ethik, die uns sagt, arbeite fleißig, konsumiere fleißig und es wird dir immer gutgehen. Dieses Credo entzaubern Sie ja gleich mit.
In den USA gibt es sicher eine gewisse Richtung im Protestantismus, die in materiellem Erfolg direkt Gottes Segen sehen will. Das scheint mir überzeichnet, und viele Christen sehen das ähnlich. Unser kapitalistisches Wirtschaftssystem ist insgesamt nur ein Aspekt des Lebens.
Es gibt auch einen großen Bereich außerhalb, nämlich die zwischenmenschlichen Beziehungen und unsere menschlichen Erfahrungen. Auf Fragen aus diesem Bereich kann der Kapitalismus keine Antwort geben, weil das gar nicht sein Thema ist. Er kann uns ein angenehmes Leben ermöglichen, aber nicht die Grundsatzfragen abnehmen.
Sie sagen, dass Menschen, die nicht spirituell aufgehoben sind, in der Corona-Pandemie leichter in Verschwörungstheorien abrutschten.
In Zeiten von großer Unsicherheit, Unklarheit und Ängsten sucht jeder eine Antwort. Man wird von vielen Fragen bestürmt. Wenn dann jemand einen Rahmen hat, in den er das alles gedanklich einpassen kann, muss er sich nicht etwas zusammenreimen, das auf sehr dünnen Füßen steht oder sogar äußerst absurd ist. Denken wir an Gerüchte wie die angeblichen Maden, die sich auf den Corona-Masken befunden haben sollen.
Darüber lächelt man anfangs vielleicht, aber das zeigt natürlich große Ängste. Es hilft, wenn ich im Leben darauf vorbereitet bin, dass ich in manchen Situationen hilflos bin oder Dinge einfach aushalten muss. Das gilt – neben einer allgemeinen Krise – etwa für eine eigene schwere Erkrankung, einen Todesfall in der Familie oder eine schwierige Trennung, bei denen ich feststelle, dass meine eigenen Kräfte begrenzt sind und ich nicht alles lösen kann.
Ihr Hinweis auf den Glauben entlastet Menschen natürlich sehr davon, ihr Leben allein in den Griff bekommen zu müssen.
Ich spreche mich für ein zuversichtliches Lebensmodell aus, in dem man Probleme, die es gibt, erkennt und bewältigt. Das schließt aber auch ein, dass ich manches praktisch nicht lösen kann. Die Versprechen der Positiven Psychologie, dass mir jeder Wunsch erfüllt wird, wird durch die eigene Lebenserfahrung widerlegt. Gut ist es, wenn man versucht, das Beste aus allem zu machen, aber auch einsieht, dass es Grenzen gibt. Der eigene Wille löst nicht alle Hindernisse auf.
Viele Bücher zu Sinnfragen vertreten Thesen, die ich realitätsfremd bis gefährlich finde – mit Thesen wie „Glaube an dein Leben, lebe deinen Traum“. Dabei sind die Beispiele, die das belegen sollen, völlige Ausnahmen. Show-Stars, Spitzensportler, Unternehmer-Legenden... Neben einer solchen Person stehen Millionen, die das nicht geschafft haben.
Sie sind atheistisch aufgewachsen und haben sich erst mit 36 Jahren taufen lassen. Für Ihre Annäherung an die christliche Religion haben Sie auch in den USA Erfahrungen gesammelt.
In den USA scheint mir das Christentum allgemein praktischer angelegt, insofern, wie es gelebt wird. Es ist eine religiösere Gesellschaft als die deutsche. Zum anderen sind deutsche Kirchen steuerfinanziert und haben daher einen stärker in sich ruhenden, auch mit sich selbst beschäftigten Charakter.
Missionierung im eigenen Land ist für sie kein Kernthema, in den USA hingegen steht und fällt der Erfolg einer Kirche mit Mitgliedern, die mit Geld und Mitarbeit unterstützen. Deshalb geht es dort darum, Menschen an sich zu binden und zu überzeugen. Man muss aber anerkennen, dass etwa die Hälfte der Deutschen Mitglied der Kirchen ist, freiwillig und zahlend. Das zeigt eine breite Unterstützung und Vertrauen. Für mich persönlich habe ich einen anderen Weg gefunden, nämlich eine kleine unabhängige Gemeinde.
Unsere großen Kirchen stehen ja stark in der Kritik, angefangen von der dogmatischen Erstarrung der katholischen Kirche bis zu den Missbrauchsskandalen.
Es ist für sich eine Glaubensfrage, ob man sagt: „Das ist ganz typisch für die Kirche!“ oder: „Das ist sicher eine Ausnahme.“ Man wird für beides Beispiele finden. Ich plädiere dafür, sich die Kirche anzuschauen, mit der man vor Ort zu tun hat, den Pfarrer oder den Priester und die Gemeinschaft dort. Es gibt keine menschliche Institution ohne zum Teil schlimme Fehler.
Ich werbe sicher dafür, Christ zu sein, aber auch dafür, sich innerhalb des Christentums seinen eigenen Weg zu suchen. Das Spektrum ist enorm breit. Ich empfehle, sich Verschiedenes anzuschauen und immer freundschaftliche Kontakte zu Menschen zu pflegen, die manches anders sehen, damit man nicht in Dogmatismus erstarrt.
Sie sagen: Man kann nicht die Welt retten, kann aber die Not ein wenig lindern.
Menschen formulieren oft sehr weltumgreifende Ansprüche. Da geht es um die Klimarettung, eine gerechtere Gesellschaft oder die Kirche an sich. Da gibt es meistens ein ziemliches Missverhältnis zwischen dem Anspruch an andere und den eigenen Aktivitäten. Auch da passt ein christliches Kernthema gut – dass man sich um seinen Nächsten kümmert, dass man seine Bemühungen konkretisiert. Dass man also nicht an andere große Forderungen stellt, sondern selbst seinen Teil tut.
Eines meiner liebsten Beispiele dazu ist der barmherzige Samariter. Er kümmert sich um diesen überfallenen Mann und redet nicht darüber, zahlt auch die Rechnungen selbst. Das ist das Gegenteil der Social-Media-Kultur, in der viel geredet und gefordert, aber nur wenig selbst getan wird. Man braucht sicher einen visionären Ausblick. Aber das sollte eher am Rande stehen. Ich kann nicht die Welt retten, kann aber nett zu einer Nachbarin sein oder mich in einem Hilfsprojekt für Flüchtlinge engagieren. Nicht nur die Menschheit allgemein lieben, sondern die Menschen in seiner Umgebung.
Wer immer nett ist, wird allerdings gern mal ausgenutzt oder zum Narren gehalten.
Das heißt ja nicht, dass ich anderen Menschen keine Grenzen setzen soll oder nicht sagen kann, dass ich etwas anders sehe. Darauf beruht ja auch unser demokratisches System, dass wir sehr unterschiedliche Meinungen haben können und trotzdem Kompromisse finden. Wenn diese Übereinkunft aufgekündigt wird, gibt es natürlich einen Kleinkrieg zwischen allen.
Im Privatleben ist das das Gleiche: Ich werde immer Leute haben, die etwas von mir wollen, was ich nicht möchte. Der Vorgesetzte will mich überlasten, der Partner möchte in den einen Urlaubsort, ich in den anderen, Freunde verplanen mich, ohne mich zu fragen... da muss man, soweit es möglich ist, Kompromisse finden und auch gewisse Grenzen setzen.
Was ist mit Leuten, die sagen: „Alles gut und schön, aber mit Religion habe ich so gar nichts mehr am Hut“?
Es ist immer nur ein Angebot. Ich vergleiche das Ganze gern mit Sport. Ich kann jahrelang nicht zum Sport gehen und mich schlecht ernähren – das geht. Aber irgendwann merke ich dann, ich bin nicht fit, und Erkrankungen folgen. Mit Spiritualität ist es ähnlich. Wenn ich mich nicht um sie kümmere, ist das auch gut. Aber es hilft mir, wenn ich sie ein wenig pflege.
Religion ist ja letztlich nur die Konkretisierung davon, bei der ich mich für eine Form entscheide mitsamt ihrer Tradition und Praxis. Das ist einfach noch ein Schritt weiter als Spiritualität. Aber das ist eine persönliche Sache. Man kann sich das anschauen und prüfen, passt das für mich von den Leuten und den Themen? Ich empfehle immer, Dinge auszuprobieren, also im eigenen Wohnort mal zwei oder drei Gemeinden anzuschauen und sich zu fragen: Könnte ich mich hier einbringen? Kirche ist nicht wie Theater, wo ich nur als Gast komme.