Der Schmetterling fliegt wieder, am Donnerstagabend ging die Bregenzer Seebühnen-Inszenierung von Giacomo Puccinics Oper „Madame Butterfly“ in ihr zweites Jahr. Und anders als bei der wegen Gewitters abgebrochenen Premiere im Sommer 2022 ging diesmal alles glatt. Aber flattert er in diesem Jahr anders als zuletzt?
Theater ist ein Spiegel seiner Zeit, doch nicht immer sind es die Regisseure selbst, die diesen Spiegel an die rechte Stelle rücken. Manchmal entwickelt sich auch die reale Welt in einer Weise, dass ein bereits bestehendes Werk plötzlich neue Aktualität erfährt.
Als im vergangenen Sommer der US-Marineoffizier Benjamin Franklin Pinkerton erstmals die von Bühnenbildner Michael Levine als zartes Papierblatt ausgebreitete Küste Japans betrat, lagen Themen wie MeToo und Klimawandel schon lange in der Luft. Und doch haben seither Vorgänge wie etwa die Affäre um die Rockband Rammstein ihnen nochmals neue Dynamik verliehen. Der Rock‘n‘Roll als Teil amerikanisch westlicher Lebensart: In Andreas Homokis Inszenierung werden deren Abgründe überdeutlich sichtbar.
Das beginnt schon mit dem bloßen Erscheinen des schneidigen Offiziers. Wo die Inselbewohner mit leicht federnden Schritten über den zerbrechlichen Boden ihrer Heimat tänzeln, rammt der Gast aus den USA erst mal zwei Löcher ins Papier. Und als die 15-jährige Cio-Cio San, genannt Madame Butterfly, sich ihm als Braut präsentiert, schiebt sich durchs obere Loch wie ein gigantischer Phallus der Fahnenmast mit „Stars And Stripes“.
Puccinis Oper handelt von zwei Menschen und zwei Kulturen. Die amerikanische tarnt ihr fragiles Inneres mit breitbeinigem Auftritt. Die japanische umgibt im Gegenteil ihren harten Kern mit zarter Schale. Pinkerton verkennt das, wenn er die auf der Insel übliche geschmeidige Bauweise und die flexiblen Verträge als Ausdruck einer ebenso flexiblen Mentalität missversteht.
Anders als er selbst nämlich versteht die arme Madame Butterfly ihre gemeinsame Ehe keineswegs bloß als flüchtiges Abenteuer. Vielmehr glaubt sie fest an den ewigen Bund. Und zwar auch dann noch, als der Angetraute längst wieder nach Amerika zurückgesegelt und seit Jahren nicht mehr aufgetaucht ist (weshalb der Riesenphallus zurück in den Boden versinkt).
Der Rockstar und sein Groupie: In Madame Butterflys vergeblichem Warten zeigt sich die ganze Tragik hinter dem nur vermeintlich unbeschwerten „American Way Of Life“.

Was dieser mit den Menschen und ihrer Welt in Wahrheit anrichtet, bringt diese Inszenierung im ersten Akt auf eindrucksvolle Weise buchstäblich zu Papier. Unter anderem, indem Projektionen von japanischen Naturlandschaften Pinkertons Beschädigungen des Papiers wie ein Sinnbild der Umweltzerstörung erscheinen lassen. Der Kapitalismus westlicher Prägung hinterlässt Löcher in Seelen wie auch in Wäldern und Ozonschichten.
Musikalisch findet das alles eine überzeugende Umsetzung. Dass die Sopranistin Barno Ismatullaeva erneut in der Titelrolle zu erleben ist, erweist sich als Glücksfall: Wunderbar, wie ihre Stimme selbst in den hohen Lagen und zarten Passagen niemals an Volumen verliert. Auch Otar Jorjikia als Pinkerton weiß zu gefallen, insbesondere mit einer glaubhaften Verkörperung des reuigen Sünders, der sich seiner Fehleinschätzung der fremden Kultur am Ende doch bewusst wird.

Ab dem zweiten Akt allerdings, als sich das Warten zum bestimmenden Motiv entwickelt und damit das dialogische Aushandeln von Mentalitätsunterschieden ablöst, wird die Sache zäh. Es ist das klassische Dilemma der Opernregie: Wo im Sprechtheater Streichungen und Straffungen möglich sind, geben Partituren unerbittlich den Takt vor.
Puccinis spätromantische Vorstellung von Melancholie und Einsamkeit folgt einem Zeitverständnis, das ins 21. Jahrhundert nicht mehr passen will. Und Andreas Homokis Versuch, diese Lücke mit durchaus ansprechend ausgearbeiteten Traumbildern zu füllen, gelingt nur teilweise.
Eine andere feste Vorgabe wird vor diesem Hintergrund unvermutet zum Rettungsanker dieses Abends. Wer für die Seebühne Regie führt, muss dabei unter anderem an irgendeiner Stelle ein Feuerwerk unterbringen.
Homoki hat sich das für den Schluss aufgehoben, wenn nach Madame Butterflys Selbstmord die ganze Bühne in Flammen zu stehen scheint: Wo sich westliches Konsumdenken ausbreitet, bleibt nur verbrannte Erde. Eindrucksvoller als in diesem Bild hätte sich die kapitalistische Wirkungskraft kaum offenbaren können.
„Madame Butterfly“ ist bis 22. August 2023 auf der Seebühne in Bregenz zu sehen. Weitere Informationen finden Sie hier.