Das verstehe ich nicht: Wir sollen das Meer malen, den Himmel, den Kiesstrand und die fast weißen Felsen mit dem grünen Bewuchs ganz oben – aber zunächst die ganze Leinwand in Orange tauchen? Wieso das denn? Habe ich da etwas verpasst? Egal. Wir haben keine andere Wahl. Die Mal-Lehrerin, Künstlerin Sophie Justet, die mir Palette, Pinsel, Staffelei und einen silbernen, schon leicht verschmierten Anorak geliehen hat, wollte es so.
Noch nie habe ich mit Ölfarben gearbeitet. Und überhaupt, wann habe ich das letzte Mal gemalt? Das war in der Schule. Aber nach vier Tagen intensivsten 150-Jahre-Impressionismus-Studien zwischen Paris und dem Strand in Yport bei Fécamp in der Normandie muss ich eben ran und mich selbst als Impressionist ausprobieren.
Also gut. Ich tupfe mehr mit dem Pinsel, als dass ich streiche. So haben es die Impressionisten ja auch gemacht. „Jetzt gibt‘s ein bisschen blau, ein helleres und ein dunkleres“, sagt Justet und drückt mir aus ihren Tuben entsprechende Kleckse auf die Palette. Dann Weiß, bisschen Grün… es wird schon. Ich merke, dass ich mich ganz vertiefe in mein Bild, dass es mir als Dilettant richtig Spaß zu machen beginnt und ich voll bei der Sache bleibe. Ich male und denke an nichts anderes.
Geburtsstunde des Impressionismus
Am Tag zuvor standen wir noch in Le Havre am Quai de Southampton. Géraldine Lefèvre, die Direktorin des Musée André Malraux hat uns dort hingeführt. „Schauen Sie mal hier nach Osten, jenseits dieses Hafenbeckens“, sagt sie, „dort entstand am 13. November 1872 um 7.35 Uhr der Impressionismus!“ Wie jetzt? „Ja, das haben amerikanische Astronomen und Historiker aus Le Havre anhand des Sonnenstands festgestellt.“ Des Sonnenstands auf dem berühmten Bild von Claude Monet: „Impression, Soleil levant“.
„So ein Blödsinn!“, dachte sich vor 150 Jahren der Journalist Louis Leroy. Wer malt denn schon schmuddelige Hafenanlagen und diese leicht verschleierte aufgehende Sonne und nennt es „Impression“? Er mokierte sich genau darüber in der Satirezeitschrift Charivari nach der ersten Ausstellung der Künstlergruppe im April 1874. Seinen Artikel überschrieb er: „Die Ausstellung der Impressionisten“. Tja, so kann‘s kommen. Was er als Kritik und Spott verstanden haben wollte, wurde zum Namen dieser Kunstepoche. Der Impressionismus.
Am Tisch mit Monets Stief-Urenkel
Szenenwechsel. Wir essen zu Abend in Rouen und mit am Tisch sitzt Philippe Piguet. Er ist der Stief-Urenkel von Claude Monet höchstselbst. Seine Großmutter war die Tochter aus erster Ehe von Monets zweiter Frau. „Der Impressionismus“, deklamiert der glänzend aufgelegte Mann, „das ist in der Malerei die erste laizistische und republikanische und avantgardistische Bewegung!“ Zack. Ein Satz, den ich mir als Kunstlaie merken kann.
Piguet, der jetzt im Jubiläumsjahr das Festival „Normandie Impressioniste“ kuratiert hat, sagt dann, dass Claude Monet der erste Maler war, der ganze Bildserien von einem Objekt gemalt hat. Allein 30 Bilder zeigen die Kathedrale von Rouen, fast immer aus derselben Perspektive. Mal morgens, mal mittags, mal abends – immer wieder nuanciert anders. Die charakteristischen Farbtupfer spricht Piguet auch an. „Mischen Sie die Farben nicht. Setzen Sie sie einfach pünktchenartig nebeneinander, das Auge mischt die Farben“, sagt er.
Wir hatten ja schon am Tag zuvor – auch in Paris im Musée d‘Orsay – viel über den Impressionismus gelernt. Wie die Maler mit den Farben spielen, wie sie die Tupfer setzen. Nun stehe ich in Monets Garten in Givenchy. In dem kleinen Ort 75 Kilometer von Paris hat Monet, der 86 Jahre alt wurde, sein halbes Leben verbracht. Der Garten wird heute noch genauso gepflegt wird wie zu Monets Zeiten. Ich schaue die Farbverläufe der verschiedenen Blumenbeete an und denke, ja, genau, so funktioniert der Impressionismus, ein einziges Kontinuum der Tupfer von Tönen und Schattierungen.
Bei Monet Tupfer, bei Hockney Pixel
Für Piguet ist klar: Sein Stief-Urgroßvater war der Superstar der Impressionisten, der bis in die Moderne zu Kandinsky oder ganz aktuell zu David Hockney die entscheidenden Impulse gab. Aus den Tupfern von Claude Monet wurden am Bildschirm bei David Hockney die Pixel. Moment mal! Monet der Superstar der Impressionisten? Dahin musste er erst mal geführt werden. „Ohne Boudin wäre Monet nicht der geworden, der er wurde“, sagt Marie-Laure Loizeau. Boudin? Nie gehört.
Loizeau steckt mitten in den Vorbereitungen zu einer Impressionistenausstellung in ihrem Musée Boudin in Honfleur und knappst sich ein bisschen Zeit für die kleine Journalistengruppe ab. Eugène Boudin also, was hatte der mit Monet zu tun?
Ganz einfach: „Er war es, der Monet dazu brachte, mit Staffelei, Pinsel und Palette nach draußen zu gehen. Draußen zu malen“, sagt Loizeau. Für Monet war das ungewohnt. Er war mehr als Karikaturist unterwegs gewesen. Und jetzt sollte er plötzlich draußen die Landschaft malen? Aber Boudin überzeugt ihn. Der Rest ist bekannt.
Noch etwas. Mich hat das mit dem orangen Hintergrund bei meiner Malstunde in Yport nämlich keine Ruhe gelassen. Deshalb habe ich, längst wieder daheim in Konstanz, Sophie Justet noch einmal angerufen in ihrem Atelier in Fécamp. „Wir arbeiten mit Komplementärfarben“, sagt Justet, „das ergibt eine bessere Luminosität. Und die Komplementärfarbe zum Blau, das Sie fürs Meer und fürs Wasser brauchen, ist eben Orange.“ Aha, so ist das.

Übrigens ist mein Bild nicht fertig geworden, wir mussten leider zum Zug. Aber einen Titel habe ich meinem Bild schon noch gegeben: „Impression. La plage d‘Yport – inachevé.“ Unvollendet.