Die Krise des Parteienstaats, insbesondere der kometenhafte Aufstieg der AfD, schreckt neuerdings die Gemüter des deutschen Theaters auf. In der Schweiz hingegen kämpfen die Bühnen schon seit Jahrzehnten gegen eine rechtsnationale Partei, die SVP. Die Schweizerische Volkspartei ist mit einem Wähleranteil von fast 30 Prozent die stärkste Partei in der Schweiz und sitzt in der Landesregierung. Ihre rigide Asyl-, Drogen- und Sicherheitspolitik, ihre scharfe Propaganda gegen Migration und europäische Integration beeinflusst auch die Volksabstimmungen der Schweiz. Was sind das für Leute?
Einer der genialsten Theatermacher betreffs verdruckster Seelenlagen ist der international bekannte Schweizer Regisseur und Musiker Christoph Marthaler. Dem Theater Basel ist er seit den 80ern verbunden. Seine erste Produktion im Badischen Bahnhof tauchte tief in die Seelen stiller Brüter am Biertisch ein. In seiner neuen Produktion wechselt Marthaler das Milieu – hinein in eine piekfeine Unternehmerfamilie.
Guten Abend und Grüezi, Christoph Marthaler lädt an den Tisch von Dr. Watzenreuther. Das Ambiente (Duri Bischoff) strahlt Gediegenheit aus: ein edel getäfelter Konferenzsaal mit langer Tafel. Man tagt bei geschlossenen Türen, umgeben von den Urnen der Ahnen. Die Kostüme (Sara Kittelmann) demonstrieren Tradition mit Pep. Leo-Print und kühne Blazer bei den vier Damen, Flanell und englischer Landhaus-Stil bei den vier Herren.
Es geht um „Dr. Watzenreuthers Vermächtnis“, so der Titel des zweistündigen Abends. Der verstorbene Patriarch hat seinen Erben nicht nur Geld und Gut hinterlassen. Sondern auch einen verstockten Konservatismus. Darunter wabert rechtsnationales Gedankengut, kriecht in die Leerstellen einer floskelhaften Sprache, angereichert mit Texten von Werner Schwab, Jürg Laederach, Emmy Hennings, Richard Wagner.
Wer steckt hinter der Kunstfigur Dr. Watzenreuther?
Moment mal: Watzenreuther, wer soll das sein? Vielleicht SVP-Übervater Christoph Blocher. Gleichwohl bleibt Watzenreuther hier eine Kunstfigur. Der Urahn der Familie hängt als Gemälde an der Wand, zuerst schräg, schwer geradezurücken – wie die Familiengeschichte. Die Maltechnik wird im Laufe des Abends immer moderner, die Gesinnung nicht.
Im Übrigen sieht Watzenreuther aus wie der furiose Sänger und Sprecher Graham F. Valentine, treues Mitglied des auch hier wieder fulminanten Marthaler-Kollektivs. Auf der Bühne brabbelt Valentine wie Donald Trump gegen Kamala Harris: „And all of a sudden she made a turn and she became a black.“ (Und plötzlich wurde sie eine Schwarze.) Das berühmt-berüchtigte Kauderwelsch des Schotten ist politisch immer sehr komisch inkorrekt, dieses Mal jedoch indirekt auch ein rechtslastiges Gebruddel.

Marthaler ist seit seinen Anfängen ein Meister der unterdrückten Gefühle, der verschluckten Ressentiments. Angesichts der politischen Krisen der Gegenwart bekommt sein Schaffen plötzlich neue Brisanz. Was er zeigt wie kein anderer: So richtig will man mit seiner rechten Gesinnung noch nicht heraus. Die selbstverfassten Texte sind ein böses Hickhack aus gezieltem Unsinn, starrem Verwaltungsdeutsch, eisigen Höflichkeitsfloskeln und Nonsens. Egoistische Interessen und der Wille zur Macht blitzen selten auf. Sprache hat in dieser Gesellschaft nur einen Zweck: Sie klittert einzelne Sätze zu einem klebrigen Verblendungszusammenhang zusammen. Daran hängen bleiben alle, auch die da oben.
Erst ist alles harmlos, dann kommt die Gewalt
Akribisch arbeitet man am Konferenztisch die Tagesordnungspunkte ab. Man feiert den 17. Geburtstag der Tochter Nadja, tanzt hurtig eine Polonaise, schwingt Reden, schläft ein, gibt den Summ-Chor aus Puccinis „Madama Butterfly“ zum Besten und schaut sich ins Maul. Fast unmerklich sickert Gewaltsames ein. Man ergeht sich auf Soldatendeutsch über „die bessere Hälfte“. Ein Provinzpolitiker redet Floskeln. Man will etwas „in Gang setzen“ – aber was?
Eine Dame hält es mit Wagner in „Rheingold“ und sagt: „Vollendet das ewige Werk!“ Die Firma – eine Götterburg, die mit Verträgen das „trotzig Gezücht“ zähmen muss? Beschwichtigend schunkelt man zur säuselnden Elisabeth-Serenade. Man trinkt Cüpli bei einer Vernissage, dabei das Kunstrecht bedenkend. Vermutlich handelt es sich um Raubkunst, vielleicht um die Sammlung des Waffenproduzenten Bührle, jüngst Skandal am Zürcher Kunstmuseum. Auftritt, Abtritt für die Polizei, ergebnislos wie alles, das Spiel geht weiter. Nur vorwärts geht es nicht.

Kein Ausweg, nirgends? Doch. Wie immer bei Marthaler – Musik! Hoffnungsträgerin ist vor allem die Tochter der Familie. Nadja Reich am Cello ist durchaus renitent. Sie quält zunächst die Ohren mit schrillem Gekratze, spielt dann Bach und sich schließlich weiter in die Moderne. Bis sie mit dem Cello-Bogen auf die Wandtäfelung weist. Holzteile fallen, Stühle krachen, Urnen kippen. Die Familie stürzt und fällt. Alles zu Ende? Was jetzt kommt: wieder Bach. Und brausender Applaus.
Weitere Aufführungen von „Dr. Watzenreuthers Vermächtnis – Ein Wunschdenkfehler“ am Theater Basel gibt es am 16., 19., 26. und 27. September, am 4. und 23. Oktober, am 12. und 22. November sowie am 17., 28. und 31. Dezember. Informationen finden Sie hier.