Nadine Zeller

Es ist das erste Instrument, das Kinder von klein auf beherrschen: ihre eigene Stimme. Sie singen unbeobachtet im Kinderzimmer, zusammen mit anderen Kindern im Morgenkreis im Kindergarten oder trällern um fünf Uhr morgens im Gitterbett.

Kinder lieben es zu singen – und unzählige Studien bestätigen: Es tut ihnen gut. Sprechrhythmus und Betonungen helfen beim Sprechenlernen, gemeinsames Liederschmettern stärkt das Gemeinschaftsgefühl und wiederkehrende Aufräum-Songs erleichtern Kindern das Einüben von Ritualen.

Chorprobe? Fällt aus!

Wegen ausgeatmeter Aerosole warnen Experten aber aktuell vor dem Singen in geschlossenen Räumen. Zu hoch ist das Risiko, sich mit dem Coronavirus anzustecken. Entsprechend entfallen Chorproben, Musikunterricht und musikalische Früherziehungskurse. Doch in den eigenen vier Wänden dürfen Kinder und Eltern weiterhin singen. Und vielleicht verhilft die Pandemie am Ende sogar zu einem neuen Trend: Die Familien entdecken das gemeinsame Singen neu, frei von jedem Leistungsdruck.

Das wünscht sich zumindest Gunter Kreutz. Der Musikwissenschaftler lehrt seit zwölf Jahren an der Carl-von-Ossietzky-Universität im niedersächsischen Oldenburg. Er beschäftigt sich damit, inwiefern Laien vom Singen profitieren. Fragt man ihn nach dem Wert des gemeinsamen Singens und Musizierens und dessen gesellschaftlichem Stellenwert, dann sinkt seine Laune.

Auf Talente fixiert

„In Deutschland herrscht so eine Talentfixiertheit vor“, sagt der Forscher. Viele Eltern blickten auf das Musizieren in Wettbewerbskategorien und missachteten den Wert des gemeinsamen Singens als Familienaktivität. Den Nachwuchs zu fördern, bedeute für viele Eltern „auf ein Ziel hinzuarbeiten“ und nicht „die gemeinsame Zeit sinnvoll zu gestalten“.

Singen und Musizieren sei vor allem in den oberen Bildungsschichten verbreitet und diene der sozialen Distinktion. Dabei entstehe unbeabsichtigt eine Abgrenzung, der am besten durch mehr musikalische Erziehung und Bildung in Kindergärten und Grundschulen zu begegnen sei.

Präsenzunterricht in der Grundschule, schön und gut – das Singen im Klassenzimmer bleibt trotzdem verboten.
Präsenzunterricht in der Grundschule, schön und gut – das Singen im Klassenzimmer bleibt trotzdem verboten. | Bild: Marcel Kusch/dpa

Und das sollte positiv auch auf das Familienleben zurückwirken. Um das zu belegen, hat Kreutz zusammen mit dem Familiensoziologen Michael Feldhaus Daten des im Jahr 2008 gestarteten Beziehungs- und Familienpanels „pairfam“ (Panel Analysis of Intimate Relationships And Family Dynamics) ausgewertet. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie im Jahr 2018 und 2020 in den Fachzeitschriften „Musicae Scientiae“ und „Leisure Studies“.

Der Datensatz umfasst deutschlandweite jährliche Befragungen von über 12.000 zufällig ausgewählten Personen der Geburtsjahrgänge der heutigen Endvierziger, Enddreißiger und Endzwanziger. Die Forscher führten sowohl mit den heutigen Erwachsenen als auch mit deren Eltern Interviews.

Singen fördert die Eltern-Kind-Beziehung

Letztere sollten dabei Einschätzungen abgeben, wie mitteilsam ihr Kind ist, was es beschäftigt oder inwieweit es seine Gefühle und Gedanken den Eltern äußert. Kreutzer und Feldhaus konnten zeigen: Je öfter Familien miteinander singen oder musizieren, desto vertrauensvoller gestaltet sich die Eltern-Kind-Beziehung.

Singen und Musizieren verbessert also die Beziehungsqualität zwischen Eltern und Kindern. Und das hängt stärker von der Bildung der Eltern als von deren Einkommen ab. Besonders hilfreich ist auch das Vorlesen von Büchern – im Gegensatz zu Computer und Handy. Damit leisten Singen und Lesen einen wichtigen Beitrag zur Medienerziehung.

Lieder vermitteln Strukturen

Jenseits von Intimität und Nähe schafft gemeinsames Singen aber auch Übergänge zwischen spielerischen und sozialen Regeln. Kinderbetreuerin Lisa Münch arbeitet seit fünf Jahren bei den Stadtmusikanten, einer Kindertagesstätte im Freiburger Stadtteil Oberau. Die Kinder sind nicht älter als drei Jahre, das Singen hilft ihnen dabei, sich auf einen neuen Tagespunkt einzustimmen, sagt Münch. Vor dem Frühstück singen sie ein Aufräum-Lied und treffen sich anschließend zum Morgenkreis, bevor alle Kinder gemeinsam frühstücken.

„Die Kinder wissen: Wenn wir das Aufräum-Lied singen, passiert etwas“, sagt Münch. Diese Rituale helfen ihnen dabei, sich dabei zu orientieren, was als Nächstes kommt. Gemeinsame Lieder geben dem Tag also Struktur und schaffen ruhige und spielerische Übergänge.

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Mit Liedern wie „Hände waschen, Hände waschen muss ein jedes Kind“ wirkt das lästige Insistieren der Erwachsenen gleich weniger fordernd und vehement. Und auch die große Aufregung wegen der vielen neuen Entdeckungen des Tages legt sich leichter, wenn die Eltern oder die Betreuerin das Lieblings-Schlaflied vorsingen.

Lieder und die dazugehörigen Bewegungen zu kombinieren, erfüllt Kinder zudem mit Stolz. „Wenn die Kleinen dann mal verstehen, wie „Aramsamsam“ funktioniert, dann sind die richtig beflügelt“, sagt Betreuerin Münch.

Musik versteht jeder

Und nicht zuletzt dient Musik als universelles Instrument der Verständigung. Bei dem Stadtmusikanten singen die Kinder „Bruder Jakob“ mittlerweile in fünf verschiedenen Sprachen: auf Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch und Bulgarisch. „So können Kinder, die zu Hause eine andere Sprache sprechen, sich auch mal sicher fühlen und das Lied in ihrer eigenen Sprache präsentieren“, erklärt Münch. Die meisten seien dann stolz wie Oskar.

Welch wichtige Rolle das Singen auch in entwicklungspsychologischer Hinsicht spielt, zeigen wissenschaftliche Studien. Ein Team um den Entwicklungspsychologen Sebastian Jentschke untersuchte, welche neurophysiologischen Reaktionen Kinder unterschiedlicher Altersklassen auf bestimmte Akkorde zeigen. Die Ergebnisse haben die Forscher der Freien Universität Berlin in dem Aufsatz „Neural Correlates Of Music-Syntactic Processing In Two Year Old Children“ vorgestellt, der im April 2014 in der Fachzeitschrift „Developmental Cognitive Neuroscience“ erschienen ist.

Mit Abstand und Kopfschutz: In der beschädigten Kathedrale Notre-Dame in Paris wurde um Weihnachten herum unter sehr speziellen ...
Mit Abstand und Kopfschutz: In der beschädigten Kathedrale Notre-Dame in Paris wurde um Weihnachten herum unter sehr speziellen Bedingungen musiziert. | Bild: Musique Sacree à Notre-Dame de Paris/MSNDP/AP/dpa

Das Ergebnis: Bereits zweieinhalb Jahre alte Kinder verstehen komplexe harmonische musiksyntaktische Regelmäßigkeiten und verarbeiten musikalische Informationen. Bereits Säuglinge können erkennen, ob sich Pausen in musikalischen Phrasen an angemessenen Stellen befinden.

Dasselbe Forscher-Team konnte in einer weiteren Publikation zeigen, dass Kinder musikalische und sprachliche Syntax teilweise in identischen Hirnregionen verarbeiten. Kindern mit musikalischem Training wiesen daher eine verbesserte Verarbeitung sprachlicher Syntax auf – ihnen fiel es also leichter, Sätze zu bilden und grammatikalische Regeln anzuwenden.

Und Spaß macht‘s auch

Töne, Melodien, Lieder – sie helfen Kindern also in verschiedener Hinsicht. Sie strukturieren ihren Tag, beruhigen sie, stellen Vertrauen und Nähe her und stiften Gemeinschaft. Neben all diesen Gründen gibt es natürlich noch den wichtigsten, der alle anderen toppt: Singen macht einfach verdammt viel Spaß.