Solange sie nichts kostet, ist Moral groß im Kommen. Opfer der „Merkel-Diktatur“ gehen – nur scheinbar todesmutig – im Kampf gegen ihre vermeintlichen Unterdrücker auf die Straße. Und liberale Kräfte kündigen vollmundig erbitterten Widerstand an, sollten die Populisten tatsächlich ein autoritäres Regime errichten.
Wie steht es um unseren Heldenmut?
Wie es um unseren Heldenmut tatsächlich bestellt ist, werden wir erst erfahren, wenn statt eines Ordnungsverweises die Vernichtung ganzer Existenzen droht. Zumindest eine Ahnung davon aber ist vielleicht auch früher schon zu haben. Und zwar an jenem Ort, der dazu erschaffen ist, die Herausforderungen und Widersprüche des Lebens spielerisch zu erkunden: das Theater.
In Konstanz zeichnet für dieses Haus eine neue Intendantin verantwortlich. Karin Becker erklärt die Bedrohungslage für unsere Demokratie zu einem thematischen Schwerpunkt ihres ersten Spielplans, eröffnet die Saison deshalb mit einer Bühnenadaption von Hans Falladas Roman „Jeder stirbt für sich allein“: Der Stoff basiert auf dem realen Fall der Eheleute Elise und Otto Hampel (bei Fallada Anna und Otto Quangel), die im Dritten Reich mit Flugblättern Widerstand leisteten, bis sie denunziert, verhaftet und hingerichtet wurden.
Es liegt eine Gefahr in dieser Geschichte. Bei Fallada sind Gut und Böse allzu klar verteilt, wer unkritisch ihm folgt, landet leicht im didaktischen Oberlehrertheater. Sehr her, wie die Quangels müsst ihr euch verhalten!
Regisseurin Shirin Khodadadian tut deshalb gut daran, sie an einem eher skurrilen Aspekt unserer Zeit aufzuhängen: dem coronabedingten Erscheinungsbild des Zuschauerraums. Bühnenbildnerin Carolin Mittler hat den einsam im Parkett verteilten Sitzinseln einfach Kopien gegenübergestellt. Und ganz wie bis eben noch wir realen Zuschauer, irrt nun auch das Bühnenpersonal durch die ungewohnte Leere. Ist dieser Stuhl etwa meiner? Oder muss ich weiter hinten sitzen? Ja, was heißt denn nun „Reihe 3“?

Auch in einem totalitären Staat sucht erst mal jeder seinen Platz. Und es sind keineswegs die vorderen, nach denen die meisten Ausschau halten. Im Gegenteil: Lieber etwas weiter hinten sitzen, wo man nicht nicht so auffällt!
Nein, Helden sind hier nicht in Sicht, keine mutigen Rebellen, keine lautstarken Parolen. Nur eine verzweifelte Mutter (Katrin Huke), die leise einen Brief zerreißt. Es ist die Nachricht vom Tod ihres Sohnes, gestorben an der Front – an Hitlers Front.
Widerstand aus Verzweiflung
Zu erleben ist, wie Verzweiflung Widerstand gebiert. Nicht als politisch überlegtes Konzept, als Ausdruck kluger Erörterungen. Sondern als Folge zutiefst privater Erschütterungen.
Der Schmerz über den Tod, er braucht ein Ziel, zum Beispiel den blassen Ehemann in seiner grauen Jacke: Ein Leisetreter sei er, ruft Anna Quangel, ein Duckmäuser! „Ihr macht doch alle nur, was alle machen!“ Und das gilt nun nicht mehr allein dem armen Mann, sondern uns, den Zuschauern.

Können wir uns diesen Vorwurf bieten lassen? Wir ja. Ein Ehemann nicht. „Eben schien doch noch alles gut zu sein“, stammelt Otto (Sebastian Haase): „Und plötzlich ist alles schlecht.“ Er müsste handeln, damit es wieder gut wird, etwas tun, das ihn nicht mehr als Leisetreter dastehen lässt. Vor seiner Frau, aber auch vor der Geschichte. „Wir sollen sagen können, wir sind auch dabei gewesen!“, wird er wenig später erklären, als er schon dabei ist, heimlich Postkarten mit politischen Parolen in der ganzen Stadt auszulegen. Raus aus dem Mittelmaß, rein in die Geschichtsbücher! Wenn das so einfach wäre.
Polizei statt Widerstand
Tatsächlich können die Quangels so viele Postkarten verteilen, wie sie wollen: Die revolutionäre Bewegung lässt auf sich warten. Wer so eine Karte in die Hand bekommt, bringt sie nämlich lieber gleich zur Polizei, als sich am Ende noch der Komplizenschaft verdächtig zu machen.

Woran totalitäre Staaten tatsächlich zugrunde gehen, zeigt sich am einsamen Kampf des schmierigen Kommissars Escherich (Ingo Biermann). Er muss dem SS-Obergruppenführer Prall (Jana Alexia Rödiger) im mysteriösen Postkarten-Fall nämlich einen Schuldigen präsentieren – egal wen. Der alte Gauner Enno Kluge (Burkhard Wolf) hat mit der Geschichte zwar gar nichts zu tun. Aber was zählt das schon, wenn ein Ermittlungsergebnis her muss?
Jagd nach kleinen Fischen
Ausgerechnet der Sicherheitsapparat, dieser vermeintliche Stützpfeiler jeder Diktatur, verschleudert seine Energien mit sinnloser Jagd nach kleinen Fischen. Wenn der Befehl das Argument ersetzt, verliert jedes System seine Effizienz: Autoritäre Regime scheitern gar nicht an ihren Gegnern, sondern an sich selbst.

Es ist eine ernüchternde Wahrheit, die Khodadadian da in so wunderbarer Klarheit wie beklemmender Ironie nach und nach entfaltet. Sie verstört, weil sie politische Widerständigkeit in Zweifel zieht, statt sie im üblichen Brustton der Überzeugung einzufordern. Und sie beglückt, weil sie ein neues Licht auf altbekannte Fragen wirft. Auf Fragen, deren bislang gültige Antworten oft allzu einfach, naheliegend, eindimensional anmuten.
Das Gelingen hängt an differenzierter Figurenzeichnung. Katrin Huke bringt in Anna Quangel den inneren Widerstreit der Gefühle zur Geltung, von Wut und Vernunft, von Todesangst und Lebensmut. Und Ingo Biermann gefällt als brachialer Rambo-Kommissar, der sich nach Festnahme des wahren Täters schlagartig der Sinnlosigkeit seines Tuns bewusst wird. Überragend aber ist Sebastian Haase als Otto Quangel: ein Durchschnittstyp statt Superheld, angetrieben allein von unverbrüchlicher Prinzipientreue.
Nur manchmal wirkt das Spiel überzogen, etwa wenn Jana Alexia Rödiger den SS-Mann in allzu polternder Volltrunkenheit über die Bühne torkeln lässt. Es sind wenige Szenen dieser Art, die den Unterschied ausmachen zwischen einer eindrucksvollen Produktion und einem großen Theaterabend. Und doch: Abstandsregeln, Hygienemaßnahmen, all diese erschwerten Bedingungen auf der Bühne nahezu vergessen zu lassen, ist eine beachtliche Leistung.
Die erste Premiere unter der neuen Intendanz am Theater Konstanz ist vorbei. Zum Gebrauch von Superlativen gibt es zwar noch keinen Anlass. Für Vorfreude auf das, was da noch alles kommen mag, aber sehr wohl.
Kommende Vorstellungen: 29. und 30. September sowie 1. bis 4. und 9. bis 11. Oktober. Weitere Informationen: http://www.http://theaterkonstanz.de