Hilfsgelder in Milliardenhöhe, Kurzarbeiterregelungen und Kreditstundungen sollen der Wirtschaft über die Coronakrise hinweghelfen. Die Kultur kommt dagegen schlecht weg. Wenn es um das Wohl des Marktes geht, scheinen Kunstprojekte, Theateraufführungen und Konzertdarbietungen leicht verzichtbar zu sein.

Künstler, Intellektuelle und Medien besinnen sich bei ihren Appellen an die Politik deshalb auf die altbekannte – wenn auch wenig bewährte – moralische Dimension von Kunst und Kultur. Von einer „besonderen Weise der Daseinsvorsorge“ schreibt etwa der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) im Tagesspiegel. Kultur sei „auf ihre Weise systemrelevant“. Aber worin genau besteht diese Systemrelevanz?

Etikett passt nicht

Folgt man der moralischen Logik, passt das gut gemeinte Etikett denkbar schlecht zum bezeichneten Inhalt. Ein bestehendes System zu stützen und zu erhalten: Auf diese Aufgabe möchten sich die wenigsten Künstler reduziert sehen. Für sie sind Systeme vielmehr zum kritischen Hinterfragen da, wenn nicht gar zum Umstürzen. Man könnte meinen: Wer es gut meint mit unserem ökonomischen System und die Gesellschaft zurückführen will in eine Spur der steten Wohlstandsmehrung, der sollte Kultur besser nach Kräften kaputtsparen, statt sie auch noch zu fördern!

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Doch die Wahrheit ist, dass der Kultur eine größere Relevanz für ökonomisches Wachstum zukommt, als viele Künstler selbst wahrhaben wollen. Das bedeutet keineswegs, dass sich staatliche Förderung primär aus diesen Gründen erfolgen sollte. Finanz- und Wirtschaftspolitiker müssen sich aber der Tatsache bewusst sein: Gesellschaft ist mehr als bloß ein Automat, der eine Konjunktur in Gang setzt, sobald im entsprechenden Münzeinwurfschlitz genügend Geld eingeworfen wird.

Wenn es für das kapitalistische Modell eines unbegrenzten Wachstums überhaupt eine realistische Grundlage gibt, so kann sie nur in einem ständigen Wandel bestehen. Dazu bedarf es geistiger Impulse. Eine Gesellschaft, die sich in ihren Überzeugungen und ästhetischen Idealen um keine Spur verändert und ihre Zeit allein mit angsterfülltem Starren auf Infektionszahlen verbringt: Das ist nicht nur ein kultureller, sondern auch ein ökonomischer Albtraum.

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Es sind in der neueren Geschichte stets die kreativen Ideen einer Kunstavantgarde gewesen, die – anfangs belächelt – sich später als Impulsgeber für gesellschaftlichen Wandel entpuppten. Ohne die Bauhausbewegung gäbe es kein Ikea, ohne die Pop-Art nicht die heutige Medienindustrie, und als Apple-Gründer Steve Jobs einmal nach dem Erfolgsgeheimnis seines „Macintosh“-Computers gefragt wurde, antwortete er: Die Leute, die daran gearbeitet hatten, seien eben Musiker, Dichter und Künstler gewesen – und ganz nebenbei auch die besten Informatiker der Welt.

Dass Künstler mit ihrer Suche nach einem sinnerfüllten Leben genau jenes System erhalten, das sie so gerne kritisieren, ist eine Ironie, die sich viele Unternehmen zunutze machen. Vor allem die Digitalkonzerne im Silicon Valley versäumen es nicht, aus zeitgenössischer Kunst Inspirationen zu beziehen.

Und nicht allein die Anbieterseite halten Künstler in Bewegung. Indem sie das Bewusstsein potenzieller Konsumenten verändern, provozieren sie aufseiten der Nachfrage einen zusätzlichen Innovationsdruck, etwa in Richtung nachhaltigere Produkte.

Naturwissenschaftler geben den Ton vor

Es sind vor allem Naturwissenschaftler, die zurzeit den Ton vorgeben, mit Sätzen wie: „Auf Dinge, die schön sind, wird man lange verzichten.“ Das ist gefährlich, weil sie einem unterkomplexen, rein technischen Verständnis des ohnehin fragwürdigen Begriffs „Systemrelevanz“ Vorschub leisten.

Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho bringt das Problem im Fachmagazin „Philosophie“ auf den Punkt. Leben, erklärt er, werde im aktuellen Diskurs als bloßes Überleben demaskiert: „Die Frage nach dem guten und richtigen Leben verstummt.“