Hundert Milliarden in die Rüstung, Zwei-Prozent-Ziel der Nato ins Grundgesetz: Wer hätte für möglich gehalten, eine Regierung mit grüner Beteiligung würde solch drastische Maßnahmen beschließen? Das Aufatmen ist groß. Endlich hat die moralisch bewegte Friedenspartei zur Realpolitik gefunden! Schluss mit naiver Traumtänzerei! Oder wie der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz es in der Bundestagsdebatte formulierte: „Lichterketten, Friedensgebete, Ostermärsche sind eine schöne Sache. Doch mit Moral allein wird die Welt nicht friedlich. Schon gar nicht mit der besseren Moral!“

Die grüne Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bei der UN-Generalversammlung auf dem Weg zum Podium: Moral wurde in der Außenpolitik ...
Die grüne Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bei der UN-Generalversammlung auf dem Weg zum Podium: Moral wurde in der Außenpolitik lange belächelt. Jetzt erweist sie sich als unterschätzter Faktor. | Bild: Florian Gaertner via www.imago-images.de

Tatsächlich gab es – auch für den Autor dieser Zeilen – noch bis vor wenigen Wochen gute Gründe für einen pessimistischen Blick auf die außenpolitischen Vorstellungen der grünen Regierungspartei. „Wertebasiert“ sollte diese sein, „feministisch“ zum Beispiel und, na klar, klimafreundlich. Schön moralisch, schön weich.

Doch jetzt ist es ausgerechnet die grüne Außenministerin Annalena Baerbock, die auf der UN-Vollversammlung die schärfste Attacke auf den russischen Aggressor fährt. Zeit, sich das mit der „wertebasierten“ Außenpolitik noch einmal genauer anzuschauen. Haben die Ereignisse der vergangenen Woche wirklich das grüne Programm widerlegt? Oder könnte es etwa sein, dass die Grünen präziser, realistischer in die Zukunft blickten als mancher dachte?

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Im Juni vergangenen Jahres erklärt Baerbock in der ARD, befragt zur Nordsee-Pipeline Nord Stream 2, bemerkenswert präzise den Lauf der Dinge voraus. Deutschland sei zu abhängig von Gaslieferungen aus Russland. Das Projekt sei alles andere als rein wirtschaftlich, Russland verfolge damit, Sanktionen zu umgehen und die Ukraine zu destabilisieren. Die Lage in der Ukraine sei sehr bedrohlich, darauf zu hoffen, Russland werde sich schon an die Regeln halten, sei „naiv“.

Ende Dezember konfrontiert die Wochenzeitung „Die Zeit“ sie mit möglichen Konsequenzen einer wertegeleiteten Verhandlungsposition: Diese könnten Geschäfte der deutschen Wirtschaft gefährden und damit deutsche Interessen.

„Werte und Interessen sind kein Gegensatz“, erwidert Baerbock. „Zu einer langfristig erfolgreichen Wirtschaftskooperation gehört eine Verständigung auf gemeinsame Werte und Standards, sonst entsteht eine Schieflage. Die Vorstellung, man könnte mit einzelnen Ländern nur über wirtschaftspolitische Fragen reden und andere Probleme in den Beziehungen ausklammern, geht in einer globalisierten Welt nicht auf.“

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Wer wollte mit Blick auf den Dax-Kursverlauf der vergangenen Tage jetzt noch widersprechen? Und ist es wirklich Zufall, dass im 31 Köpfe zählenden russischen Regierungskabinett nur drei Frauen zu finden sind?

Das Moralisieren hart am Rand zur Ideologie ist tief in die grüne DNA eingeschrieben. Und zweifellos hat ein Hang zur Volkserziehung auf Grundlage von Wokeness- und Gendertheorien im Wahlkampf viele Stimmen gekostet. Doch diese schrillen Auswüchse überdecken, dass ein beträchtlicher Teil des moralischen Sendungsbewusstseins in der jüngeren Realität erstaunlich oft Bestätigung gefunden hat.

Bemerkenswert ist das deshalb, weil damit ein politischer Bruch einhergeht. Seit Willy Brandts Entspannungspolitik der 70er-Jahre war deutsche Außenpolitik von der Überzeugung geleitet, Handel sei der Hebel für Wandel. Anfangs von Unionsseite hart bekämpft, wurde das Diktum von der gesellschaftlichen Veränderung durch ökonomische Verflechtung geradezu zum Wesensmerkmal konservativer, mithin realistischer Außenpolitik. China will Zugang zum deutschen Mobilfunknetz? Lasst uns drüber reden! Deutschland braucht mehr Wasserstoff für Zukunftstechnik? Fragen wir Putin!

Werte galten als lästiges Gedöns, gut aufgehoben bei den von CDU-Chef Merz angeführten „Lichterketten, Friedensgebeten, Ostermärschen“. Selbst Kulturinstitutionen wie der Dresdner Semperopernball oder Sportclubs wie der FC Bayern München machten sich die Legende vom naiven Moral-Kindergeburtstag, der bei den ernsthaften Geschäftsbeziehungen der Erwachsenen nur störe, zu eigen.

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Die Wahrheit ist: Um gesellschaftliche Veränderung ging es längst nicht mehr, zu offensichtlich zeigten die tatsächlichen Zustände das Scheitern des einst so erfolgreichen Konzepts auf. Man glaubte, beim Handel auf das Wort Wandel einfach verzichten zu können, den Begriff allenfalls noch für Sonntagspredigten aus der Schublade ziehen zu müssen. Was geht‘s uns an, wenn in Russland keine Meinungsfreiheit herrscht?

Heute wissen wir, was es uns angeht. Mit Moral allein wird die Welt zwar tatsächlich nicht friedlich. Doch ohne sie geht es auch nicht.