Wo sind all die Intellektuellen hin? Jahrzehnte lang haben uns Literaten, Philosophen und Publizisten die Welt erklärt, von Günter Grass über Marion Gräfin Dönhoff bis Helmut Schmidt. Ausgerechnet jetzt, wo Ideologien von links wie rechts an den Grundfesten unserer demokratischen Kultur rütteln, sind sie alle fort: manche bereits gestorben, manche nicht mehr als Leitfiguren akzeptiert.
Ohne ihn gäbe es kein Wikipedia
Der Romanist Hans Ulrich Gumbrecht, Gastprofessor an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen und selbst ein möglicher Kandidat für die vakant gewordene Rolle des Welterklärers, hat auf der Suche nach einem solchen im Geschichtsbuch geblättert. Fündig wurde er bei einem Mann, der als Ratgeber für unsere Gegenwart gleich in mehrfacher Hinsicht geeignet scheint: Denis Diderot war so etwas wie der Internet-Pionier des 18. Jahrhunderts, begründete seinen Ruhm vor allem mit der ersten Enzyklopädie, die ihren Namen auch verdient. Ohne ihn gäbe es heute wohl kein Wikipedia.
Und noch etwas spricht dafür, den Dichter und Philosophen der Aufklärungszeit für heutige Fragestellungen zurate zu ziehen. Damals wie heute hatte die gesellschaftliche Elite nur allzu gerne an ein Ende aller Geschichte glauben wollen: daran, dass der Menschen kraft seiner Vernunft schon bald erkennen könnte, was die Welt im Innersten zusammenhält. Das verheerende Erdbeben von Lissabon 1755 sollte diesen Glauben nachhaltig erschüttern. Was, wenn es da gar nichts gibt, das unsere Welt zusammenhält?
Sehnsucht nach Führerfiguren
Wie zu Diderots Zeiten die menschliche Vernunft, so gibt heute die demokratische Idee – nach einer ersten Phase der Euphorie – zunehmend ihre Grenzen zu erkennen. Das gleichberechtigte Mitreden über digitale Kanäle etwa hat entgegen aller hochfliegenden Erwartungen doch keinen herrschaftsfreien Diskurs hervorgebracht. Und wo gestern noch Menschen für demokratische Teilhabe auf die Straße gingen, greift inzwischen eine Sehnsucht nach Führerfiguren um sich.
Wie erholsam eine Gestalt wie Diderot in dieser verfahrenen Situation wäre, zeigt sich schon an seiner Art der Gesprächsführung. In den Salons irritierte er mit für seine (inzwischen auch wieder für unsere) Zeit ungewöhnlicher Akzeptanz von abweichenden Meinungen. Schließlich sollte er auch seinerseits nicht selten die Toleranz seiner Weggefährten auf die Probe stellen.

Die Gelassenheit im persönlichen Umgang mit anderen fand ihre Entsprechung in einer Weltanschauung, die sich aus heutiger Sicht als postmodern beschreiben lässt. Es ist die Einsicht, dass ein Ding von verschiedenen Seiten gleichermaßen als wahr erscheinen kann: ein für die damalige Zeit ungewöhnlicher Gedanke.
Mit salopp-ironischer Tongebung wird diese Offenheit gegenüber den widersprüchlichen Erscheinungsformen unserer Wirklichkeit etwa in Diderots satirischem Dialog „Le Neveu de Rameau„ durchgespielt. Darin sieht sich der seriöse Philosoph „Moi“ vom zynischen, künstlerisch wenig erfolgreichen Neffen des großen Komponisten Jean-Philippe Rameau nach und nach in seinen vermeintlichen Gewissheiten erschüttert. Vom Wissenschaftler mit Vernunft ermittelte Moralgrundsätze findet in der irrationalen Schwärmerei des Künstlers ihren Meister.
Wie stark ein Werk wie dieses andere Künstler beeinflusst haben mag, zeigt sich in der Kunst Francisco de Goyas. Mit bewusst mehrdeutig interpretierbaren Bildtiteln stellte der spanische Maler sein Publikum vor ungewohnte Herausforderungen. Darstellungen von Heldentaten der eigenen Armee erscheinen plötzlich in anderem Licht, wenn unter dem Gemetzel das schlichte Wörtchen „Dasselbe“ steht. Dasselbe wie was? Etwa wie jene Taten, die uns als Verbrechen gelten, sofern sie nur unter fremder Flagge verübt werden?
Goyas Kippbild
Selbst ein vermeintlich so wohlbekanntes Werk wie „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ erweist sich vor dem Hintergrund von Diderots möglichem Einfluss als Kippbild. Die nach Gumbrecht angemessenere Übersetzung des Wortes „Sueno“ mit „Traum“ lässt den Betrachter im Unklaren, ob die über einen Schlafenden umschwirrenden Ungeheuer der Abwesenheit von Vernunft zu verdanken sind oder im Gegenteil ihrer Dominanz. Nicht zuletzt steht infrage, ob diese eulenähnlichen Wesen mit „Ungeheuer“ überhaupt treffend beschrieben sind.
Gumbrechts Beispiele – neben Goya zieht er auch Georg Christoph Lichtenberg und Wolfgang Amadeus Mozart heran – sind nicht immer zwingend, aber doch anschaulich genug, um ein Grundmuster zu erkennen: Intellektualität, das bedeutet in der Zeit nach dem Schockereignis von Lissabon, monokausalen Erklärungsmustern zu misstrauen und sich einer Welt voller Mehrdeutigkeiten zu stellen. „Komm! Ins Offene, Freund!“, um mit Hölderlin zu sprechen. Getragen wird dieser Ansatz von der Erkenntnis, dass Wahrheit immer auch eine Frage der Betrachterperspektive ist.
Mit Recht macht Gumbrecht hier eine Leerstelle in unserer Gegenwart aus, deren Merkmal zusehends in einem Beharren auf allzu oft nur vermeintlich „empirisch bewiesenen Tatsachen“ besteht. Fast möchte man ihm konkretere Beispiele für diese Fehlentwicklung zurufen: etwa in einer an Identitäten statt Argumenten ausgerichteten Empörungskultur. Das Argument der Betrachterperspektive ist längst ideologisch vereinnahmt und moralisch pervertiert worden, steht heute mehr denn je für Verengung statt Öffnung.
So fällt in diesem Buch denn auch spät der Begriff der „political correctness“, in deren Umfeld sich ein aufgeklärter Denker wie Denis Diderot kaum wohl fühlen dürfte. Wie ein „Außerirdischer“ müsste er in unserer Welt wirken, bilanziert Gumbrecht. Schon wegen mangelnder Spezialisierung und institutionell bestätigter Fähigkeiten fände er keine Anstellung auf dem Arbeitsmarkt, „schon gar nicht an den Universitäten“, wo hybride Übergänge und Wechsel zwischen verschiedenen Diskursen nicht mehr gefragt seien.
Wo geistige Offenheit nötig wäre, ist sie gar nicht erwünscht. Darin besteht das Dilemma einer jeden ideologisch verkrusteten Struktur.
Hans Ulrich Gumbrecht: „‘Prosa der Welt‘ – Denis Diderot und die Peripherie der Aufklärung“, Suhrkamp Verlag 2020; 400 Seiten, 36 Euro.