Marlene Weyerer

Aufgeregt sind sie schon, die beiden. Zu nervös aber auch nicht. Schließlich haben sie für die Hip-Hop-Aufführung lange genug geprobt. Zoe hilft Maya dabei, ihre Maske abzuziehen, dann stehen sie auf und reihen sich ein, um mit den anderen Jugendlichen in Schwarz und Glitzer die Bühne zu betreten.

Zoe und Maya haben viel gemeinsam. Sie mögen beide kein Mathe, dafür reiten sie gerne und tanzen eben Hip-Hop zusammen. Sie haben auch einen ähnlichen Humor, sagt Zoe. Zumindest lacht Maya am meisten über Zoes Witze und umgekehrt. Und wenn sie etwas lustig finden, haben beide ein ansteckendes, herziges Grinsen, mit dem sie viele Zähne zeigen. Sonst sind die 14-jährigen Zwillinge aus dem Neusässer Stadtteil Steppach im Landkreis Augsburg aber grundverschieden. Maya hat glatte Haare, Zoe Locken. Zoe ist Vegetarierin, Maya liebt Fleisch. Maya findet schnell Anschluss, Zoe ist etwas zurückhaltend. Maya hat das Downsyndrom. Zoe nicht.

„Bei jedem Geburtstag von Zoe wäre dieser Schatten dabei gewesen. Ich wäre kein glücklicher Mensch geworden.“
Sandra Engelhart über die ihr vorgeschlagene partielle Abtreibung

Menschen wie Maya sind selten geworden. Schätzungen zufolge leben etwa 50.000 Menschen mit Downsyndrom in Deutschland. In 90 Prozent der Fälle entscheiden sich Eltern für eine Abtreibung.

Auch Sandra Engelhart und Uwe Matthäus, die Eltern von Maya und Zoe, standen vor mehr als 14 Jahren vor der Entscheidung. Die Ärzte gaben dem Paar die Option, partiell abzutreiben. Zoe wäre dann ohne Schwester auf die Welt gekommen. Undenkbar, findet das die Mutter noch heute. „Bei jedem Geburtstag von Zoe wäre dieser Schatten dabei gewesen“, sagt sie. „Ich wäre kein glücklicher Mensch geworden.“ Uwe Matthäus sagt, sie hätten jeder für sich entschieden, dass eine Abtreibung keine Option war. Eine Entscheidung, die sie, das betonen beide, nie bereut haben.

Uwe Matthäus und Sandra Engelhart sitzen mit ihren Töchtern am großen Holztisch in ihrem Wohnzimmer und erzählen. Sie leben wie andere Familien auch – oft glücklich, mal gibt es Streit. Der Raum ist ein Wimmelbild aus Fotos und Pflanzen, Büchern und Stundenplänen. Man spürt Wärme, Chaos und Zusammenhalt. „Wir haben beschlossen: Es soll kommen, wie es kommt“, sagt Matthäus. Und es kamen Zoe und Maya im Doppelpack.

Nur eine Geburt von 20.000 ist wie bei Maya und Zoe

Zwillinge, von denen ein Kind eine Behinderung hat und das andere nicht, sind selten. Humangenetiker Wolfram Henn und Entwicklungspsychologin Gisa Aschersleben von der Universität des Saarlands haben in einer groß angelegten Studie Zwillingspaare untersucht, von denen das eine Kind das Downsyndrom hat. Sie schätzen, dass diese Besonderheit nur bei einer von 20.000 Lebendgeburten vorkommt.

In ihrer Studie gingen die Forscher der Frage nach, welche Folgen das Aufwachsen mit einem Zwilling mit Trisomie 21 für das gesunde Kind hat. Laut Aschersleben machen sich werdende Eltern häufig Sorgen, ob das gesunde Kind unter den besonderen Umständen leidet, sich schlechter entwickelt.

Eltern befürchten Nachteile fürs gesunde Kind

„Aber anders als von den Eltern befürchtet, haben die gesunden Kinder keinen Nachteil“, erklärt Aschersleben. Die untersuchten Kinder waren genauso intelligent wie Kinder ohne einen besonderen Zwilling. Sie zeigten auch praktisch keine Verhaltensauffälligkeiten. „Es gab leicht erhöhte Werte bei den externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten wie zum Beispiel ADHS, die aber mit zunehmendem Alter der Kinder verschwanden“, sagt Aschersleben. Gleichzeitig berichteten viele Eltern aus der Studie, dass ihre gesunden Kinder sozial kompetenter als Gleichaltrige seien.

Gegenseitig haben sie die Schwestern gut getan

Uwe Matthäus und Sandra Engelhart bestätigen diesen Punkt zu 100 Prozent. „Zoe ist sehr feinfühlig, sorgt sich um andere“, sagt die Mutter. Lehrer hätten ihr oft gesagt, ihre Tochter steche dadurch hervor. Zoe selbst sagt, ihre besondere Zwillingsschwester sei eine gute Lehrerin gewesen: „Sie merkt immer, wenn es irgendwem nicht gut geht.“ Gleichzeitig war Zoe den Eltern zufolge die beste Frühförderung für Maya. Als kleine Kinder legten sie auf roten Hüpfpferden etliche Kilometer zurück. Menschen mit Downsyndrom haben eine Muskelschwäche und häufig Probleme mit der Motorik, Maya aber wollte mit Zoe mithalten. Dadurch war sie gut trainiert. „Es ist gut, dass Zoe Maya nicht schont“, findet die Mutter. Die beiden Mädchen streiten sich und sind laut den Eltern auch mal garstig zueinander. „So wie es unter Geschwistern eben sein muss“, sagt Engelhart und lacht.

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Wie die Kinder mit Downsyndrom von ihrem gesunden Zwilling profitieren, war nicht Teil der Forschung der Saarländer Universität. Aber Gisa Aschersleben denkt, dass Familie Engelhart da kein Einzelfall ist. Kinder mit Downsyndrom seien in ihrer Entwicklung etwa halb so schnell wie Kinder ohne. Wenn die Zwillinge also sechs sind, ist das Kind mit Downsyndrom kognitiv noch etwa drei. „Das andere Kind wirkt dadurch häufig wie ein älteres Geschwisterkind“, erklärt Aschersleben. Es übernehme meist früh viel Verantwortung. „Gleichzeitig haben wir gesehen, dass die Zwillinge oft eine enge Bindung haben.“

„Es wird sehr viel Anpassung von ihnen erwartet.“
Stefan Meir, Psychotherapeut in der St. Lukas-Klinik der Stiftung Liebenau in Meckenbeuren, über die Geschwisterkinder

Die frühe Verantwortung und die Aufmerksamkeit, die das behinderte Kind in der Familie bekommt, können für Geschwisterkinder schwer sein. Stefan Meir arbeitet als Psychotherapeut in der St. Lukas-Klinik der Stiftung Liebenau in Meckenbeuren mit Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung und zusätzlichen psychischen Erkrankungen. Einige davon haben das Downsyndrom. Er kennt auch die Probleme der Geschwisterkinder. „Es wird sehr viel Anpassung von ihnen erwartet“, sagt er.

Häufig sei es schwierig, die Bedürfnisse beider Kinder auf einmal zu erfüllen, das nicht behinderte Kind müsse da dann meist zurückstecken. Wenn die gesunden Geschwister in die Pubertät kommen, verbringen sie mehr Zeit mit Mitschülerinnen und Freunden, wollen eigene Projekte vorantreiben. „Das kann gut funktionieren, ist aber oft mit einem schlechten Gewissen gegenüber dem beeinträchtigten Geschwisterkind verbunden“, sagt Meir. Wichtig sei hier, wie die Eltern damit umgehen.

Zoe und Maya vor zehn Jahren beim gemeinsamen Spielen.
Zoe und Maya vor zehn Jahren beim gemeinsamen Spielen. | Bild: Marcus Merk

Zu wenig Aufmerksamkeit bekomme sie nicht, findet Zoe. Aber manchmal wirft sie ihren Eltern dann doch vor, dass es immer um Maya geht. Weil ihre Zwillingsschwester so besonders ist und sich vieles häufig auf sie bezieht, bekomme sie teilweise das Gefühl, nichts Eigenes zu sein, sagt Zoe. „Manchmal frage ich mich: Was bin ich ohne Maya?“ Die Suche nach der eigenen Identität ist mit 14 nichts Ungewöhnliches. Und doch ist die Situation ungleich schwieriger, wenn die Zwillingsschwester so speziell ist.

Wer bin ich ohne Maya?

Dabei hat Zoe viele eigene Begabungen. Sie liebt Sprachen, spricht sehr gut Englisch und Französisch, lernt seit einem Jahr begeistert Spanisch. Sie reitet, ist Tierschützerin, Vegetarierin. In ein paar Jahren will sie ein Auslandsjahr in den USA machen. Später irgendwann hätte sie gerne einen Gnadenhof. Während ihre Zwillingsschwester mit Zweifeln zu kämpfen hat, merkt man die Pubertät bei Maya kaum. „Sie ist aufmüpfiger, gibt mehr Gegenwind, auch mir gegenüber“, sagt Zoe. Ihre Mutter findet das gut, dadurch bleibe es zwischen den beiden ebenbürtig.

Weniger Identitätssuche in der Pubertät

Tatsächlich stehen bei Jugendlichen mit Trisomie 21 in der Pubertät die Identitätskrisen nicht so sehr im Vordergrund. „Menschen mit Downsyndrom erleben ihre Emotionen meist sehr unmittelbar auf den Alltag bezogen mit allen Ausprägungen in Höhen und Tiefen“, erklärt Stefan Meir. Die abstrakte Reflexion des Seins schlage da nicht so zu Buche wie bei anderen Jugendlichen. Allerdings haben dem Psychotherapeuten zufolge ab dem Jugendalter Menschen mit Downsyndrom ein deutlich höheres Risiko, an Depression zu erkranken. Weibliche Jugendliche zögen sich dann oft zurück, verkümmerten geradezu. Männliche Jugendliche zeigten dagegen manchmal aggressives Verhalten. Die Warteliste seiner Ambulanz ist voll.

Maya ist eine Frohnatur. Sie grinst regelmäßig ihre Schwester an, macht sich darüber lustig, dass der Papa nicht so gut mit Technik umgehen kann. Ihre Eltern machen sich aber jetzt schon Gedanken darüber, wie Maya in Zukunft leben könnte. Denn mit dem Erwachsenwerden kommen weitere Hürden hinzu. Wenn es darum geht, alleine zu leben, zu arbeiten, Beziehungen einzugehen. „Wenn Träume auch mal platzen“, sagt Sandra Engelhart. Maya möchte Schauspielerin werden. Die Eltern wollen ihr dabei helfen, so gut es geht.

Der wichtigste Mensch für Zoe

So unterschiedlich sie sind, Maya und Zoe haben ein sehr enges Verhältnis. Wenn sie nebeneinandersitzen, tauschen sie Blicke aus, scheinen ohne Worte zu kommunizieren. Für Zoe ist Maya der wichtigste Mensch auf dem Planeten. „Ich spüre sehr viel Liebe und Zuneigung gegenüber Maya“, sagt sie. Sie schätzt Mayas Humor, ihre albernen Witze und ihre friedenstiftende Art. Wenn Maya ihre Zwillingsschwester beschreiben soll, grinst sie schelmisch. Nach reiflicher Überlegung sagt sie dann: „Lieb. Und ein bisschen frech.“

Wer die besondere Beziehung der beiden verstehen will, muss nur zu einer Aufführung der Tanzgruppe gehen. Nebeneinander warten sie auf den Auftritt. Auf dem Weg zur Bühne dreht sich Zoe mehrmals um, schaut, ob ihre Schwester noch bei ihr ist. Passt immer gut auf. Dann geht jede an ihren Platz, Maya tanzt sich unabhängig durch die Aufführung, Zoe konzentriert sich auf ihre eigenen Schritte.

Zusammen stehen sie auf der Bühne. Aber jede strahlt für sich.

(Dieser Artikel wurde erstmals im Dezember 2021 veröffentlicht.)