Mit dem Titel "Letzte Gespräche" ist das Interview mit Papst Benedikt XVI. überschrieben. Das ist nach journalistischer Sitte nur knapp übertrieben; schließlich wird der Eremit in der weißen Soutane noch viele Gespräche führen, zum Beispiel mit Assistent Georg Gänswein. Das Gespräch im Buchformat lohnt die Lektüre: Frei erzählt Joseph Ratzinger aus seiner Jugend oder den spannenden Tagen der Abdankung. Man erfährt viel Neues.
Nur an einer Stelle verlässt er den Tonfall der Altersmilde und wechselt auf Angriff. Das ist jene eine Seite, wo er sich die deutsche Abteilung seiner Kirche vornimmt. Er kritisiert den "hochbezahlten Katholizismus" in Deutschland, spricht von Gewerkschaftsmentalität und meint damit angestellte Laien, die ihre Kirche als Arbeitgeber sehen, sich sonst aber kaum mit dem christlichen Kern identifizierten. Die Christen in Italien preist er als Vorbild: Weniger Geld, mehr Freiwillige, mehr dynamischen Glauben finde er dort. Sie machten alles für ein Dankeschön.
In manchem mag der ehemalige Papst recht haben. Durch die privilegierte Stellung und das Eintreiben der Kirchensteuer geht es den Kirchen sehr gut. Das hat das Denken in bürokratischen Strukturen gefördert. Von der missioniarischen Aufgabe der Kirche ist in mancher katholischen Gruppierung am Rande und hinter vorgehaltener Hand die Rede. Dafür hat sich die Kirche nördlich der Alpen in weit entlegene Felder verzweigt. Sie bildet Kindererzieherinnen und Kirchenmusiker aus, schult Journalisten, betreibt Bildungswerke, deren Programm dem einer Volkshochschulen verblüffend ähnelt. Sie unterhält Fachstellen für Suchtkranke, Kompetenzzentren für Europafragen, Referate für Kunst sowie eigene Akademien, die sich wichtigen Dingen wie dem multireligiösen Dialog widmen.
In der Arbeit mit Migranten hat sie neue Flächen geöffnet und fröhlich beackert. Bleibt die Frage, die Joseph Alois Ratzinger stellt: Muss das alles sein?
Die Antwort fällt leicht, wenn man seinen Werdegang betrachtet. Er ist ein Kind des süddeutschen Volkskatholizismus aus der Vollmilchstufe. Weniger bildlich gesprochen: Joseph Ratzinger hat bis zu seinem Weggang nach Rom (im Jahre 1982) jene Wohltaten genossen, deren Fülle er jetzt beklagt. Erst förderte ihn die Kirche, dann die Länder Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg, wo er als Professor für Theologie lehrte und aus Staatstöpfen bezahlt wurde. Das ist eine Konstruktion, die es so nur in Deutschland gibt und die – gerade in kirchlicher Sicht – sparsam und nützlich ist. Als Erzbischof von München schließlich versorgte ihn der Freistaat und nicht die Erzdiözese.
Die Leistung der Laien
Wenn der Klerus ordentlich bezahlt wird, warum nicht auch die Laien? Joseph Ratzinger vertritt in seinem Interview ein altertümliches Kirchenbild. Oben thront die Geistlichkeit, dann kommt lange nichts, dann erst das Volk, das sich scheu in die Furche legt. Seine Dienste soll es demütig verrichten und nicht nach dem Lohn fragen. Im besten Falle ertönt ein Vergelt's Gott. Dabei leisten auch die weltlichen Abteilungen viel. Die Caritas ist ein Sozialkonzern, der sich nicht ehrenamtlich führen lässt. Andere Hilfswerke wie Missio oder Adveniat leisten hervorragende Arbeit, von denen viele Länder weltweit profitieren.
Die deutschen Pfarrer haben das registriert. In der Praxis der Gemeinden geht es nicht mehr um das Konstruieren von Gehaltsklassen und hierarchischen Unterschieden, sondern um gleiche Augenhöhen. Nur in Rom pflegt man die Fassade eines Klerikalismus, dessen Putz im späten 19. Jahrhundert (Papst Pius IX.) angeworfen wurden.
Neben derlei historischen Betrachtungen ist ein Blick in die vatikanischen Kassenbücher stets aufschlussreich. Ohne die zahlenreiche Hilfe der deutschen Diözesen wäre das römische Leben nicht ganz so diesseitig und üppig, wie es gottlob ist.