Halb Baden-Württemberg ist in der zweiten Augusthälfte in den Sommerferien. Das gleiche gilt für große Teile der Landesregierung. Ungeachtet dessen steigen im Südwesten die Zahlen der Corona-Neuinfektionen deutlich. Der tägliche Covid-19-Lagebericht des Landesgesundheitsamtes weist seit nunmehr vier Wochen täglich eine höhere Zahl von neuen Fällen auf. Mit 266 am Donnerstag gemeldeten landesweiten Neuinfektionen war die Zahl so hoch wie seit Anfang Mai nicht mehr. Eine alarmierende Entwicklung. Deutschlandweit ist die Zahl der täglichen Neuinfektionen wieder über die 1000er-Marke geklettert.
Vor allem Reiserückkehrer aber auch Jüngere sind infiziert

Die Gesundheitsexperten stellen dabei vor allem zwei markante Punkte fest: Erstens steigt der Anteil der Infektionen in jüngeren Altersgruppen zwischen 15 und 34 Jahren kontinuierlich, das Durchschnittsalter der Infizierten sinkt. Und zweitens gibt es einen sehr hohen Anteil von Menschen, die sich mit großer Wahrscheinlichkeit im Ausland infiziert haben. Auch mehrere Ausbrüche im familiären Umfeld lassen sich auf infizierte Reiserückkehrer zurückführen.
Kontrolliert werden kann keiner
Gut zwei Drittel von ihnen kam aus Kroatien, dem Kosovo, Serbien, Bosnien und Herzegowina, Rumänien, Bulgarien und der Türkei zurück – Länder, in denen viele Baden-Württemberger in den Ferien Angehörige besuchen. Die meisten dieser Gebiete hat das RKI bereits vor Wochen ganz oder teilweise zur Risikogebieten erklärt, zuletzt Teile von Kroatien, von wo die größte Zahl von Infizierten nach Hause kommt. Wer aus einem Risikogebiet zurückkehrt, ist verpflichtet, sich testen zu lassen und sich bis zur Vorlage des Ergebnisses in Quarantäne zu begeben. Zuwiderhandlungen können schmerzhaft hoch bestraft werden – aber kontrolliert werden können die Rückkehrer nicht.
Der grün-schwarzen Landesregierung ist angesichts der markanten Entwicklung zumindest nicht vorzuwerfen, dass sie in Aktionismus verfällt. Die Testzentren an den größeren Flughäfen im Land, am Stuttgarter Hauptbahnhof und auf der A5 sind aufgebaut und funktionsfähig, von größeren Wartezeiten oder Testpannen ist bislang nichts zu berichten. Die Corona-Lenkungsgruppe im Staatsministerium tagt turnusmäßig; größere geplante Maßnahmen, die der dynamischen Entwicklung in Baden-Württemberg entgegenwirken sollen, wurden bislang nicht bekannt, mal abgesehen von den erhöhten Bußgeldern für Maskenverweigerer.

Der grüne Regierungschef lässt sich in einem Sommerinterview darüber aus, dass die Koalition, in der es überall ächzt und knirscht, konstruktiv und effektiv zusammenarbeite, die Kultusministerin und CDU-Spitzenkandidatin sorgt für Aufsehen, weil sie eine Lanze für den Dialekt bricht.
Kein Plan wie es nach den Ferien in den Schulen weitergeht?
Wer aber danach fragt, wie mobile Aerosole in den Schulklassen nach den Ferien zu begegnen ist, der bekommt von Kultus- über Gesundheitsministerium bis hin zu den Schulträgern vor Ort weder auf schwäbisch noch badisch eine Antwort. Allein der Gesundheitsminister mahnt ein wenig. Aber er sagt schon einmal zu, dass es künftig nur noch auf lokaler Ebene Lockdowns geben werde. Ansonsten herrscht in der Sommerhitze daheim eine trügerische Ruhe. Krise, war da was?
Tatsache ist, das die Unsicherheit steigt. Was steht uns bei weiter steigenden Infektionszahlen bevor? Wie kann verhindert werden, dass das Virus ins Land zurückkehrt, ohne dass wieder Grenzen geschlossen werden müssen? Ist das Gesundheitssystem für eine zweite Infektionswelle gerüstet? Wie geht es an Schulen und in den Kitas nach den Ferien weiter, wenn Personal fehlt? An einen geordneten Regelbetrieb ist angesichts der steigenden Infektionszahlen eher nur im günstigsten Fall zu denken. Was aber ist im ungünstigsten Fall?
Die Politik muss auch unangenehme Wahrheiten aussprechen
Wie können Ältere dauerhaft geschützt werden, ohne isoliert zu werden? Welche Perspektiven gibt es für Künstler und Kulturschaffende, für Gewerbetreibende und Handel, wenn es noch Wochen und Monate Einschränkungen gibt und die Soforthilfeprogramme ausgelaufen sind? Und wie soll die Gesellschaft zusammengehalten werden, wenn die Zahl derer beständig steigt, die genug von den Einschränkungen haben, Corona herunterspielen oder abstrusen Verschwörungstheorien mehr Glauben schenken als der Wissenschaft?
Nach den Monaten im Ausnahmezustand seien auch den Verantwortlichen der Landesregierung ein paar Ferientage vergönnt. Und nein, die Politik soll keine Schreckensszenarien verbreiten. Aber sie muss schnellstmöglich Antworten geben und, wo es sie nicht gibt, unangenehme Wahrheiten aussprechen, Führung und Orientierung geben. Die Krise ist nicht vorbei. Das Virus macht keine Sommerferien.