Cedric Rehman

Das Großmütterchen hätte es beinahe geschafft in den noch friedlichen Teil Europas. Doch etwas geschah mit der betagten Ukrainerin nur wenige Hundert Meter entfernt vom Grenzübergang Krakowez. Ihr Herz versagte, weil sie die Kraft verlassen nach Stunden oder Tagen der Flucht über die verstopften Autobahnen der Ukraine hat.

Ihr Sohn bearbeitet mit beiden Händen den Brustkorb der Seniorin. Ihr Körper zuckt im Takt der Herzmassage. Ihre Augen sind geschlossen wie zu einem stummen Gebet. Es wirkt, als sie schon nicht mehr unter den Lebenden.

Die Frau ist in einer Schlange vor der Raststätte zusammengesackt. Ukrainer ziehen Rollkoffer hinter sich her. Kinder klammern sich in der Morgenkälte an ihre Mütter. Alle stehen an, um sich die klammen Finger an einem Pappbecher mit Kaffee zu wärmen.

Anton Yaremchuk steuert gerade sein Auto mit Berliner Kennzeichen aus dem Terminal und auf die Raststätte zu. Er sieht durch eine Lücke zwischen den Wartenden, wie der Sohn sich über seine Mutter beugt. Der 32-jährige Berliner tritt auf die Bremse, steigt aus dem Audi und hastet los.

Eine Tote an der Grenze

Yaremchuk und der Sohn wechseln sich ab mit der Herzmassage. Mal drückt der eine fest auf den Brustkorb, mal der andere. Eine Frau, vielleicht die Tochter oder Schweigertochter, fängt an zu beten. Wo bleibt nur der Krankenwagen? Jeder starrt in sein Smartphone, als wüsste es die Antwort. Endlich sind die Sirenen zu hören. Sanitäter steigen aus und prüfen den Puls der Frau.

Es ist nichts mehr zu machen.

Der Sohn fährt fort, wie wild auf das Brustbein der Mutter zu drücken und niemand wagt ihm zu sagen, dass es vorbei ist.

Seine Mutter ist noch in der Ukraine und so kurz vor Europas Außengrenze gestorben.

Einen halben Tag, bevor Anton Yaremchuk vergeblich ein Leben zu retten versucht, setzt sich der Filmemacher aus Berlin-Friedenau in sein Auto. Er fährt, ohne den Fuß vom Pedal zu nehmen, über Polen an die ukrainische Grenze. Er hat seine Kameraausrüstung mit dabei. Der Ukrainer will dokumentieren, was er in seiner erlebt. Yaremchuk erreicht um 4 Uhr den Terminal. Die polnischen Grenzer prüfen noch geschäftsmäßig die Papiere.

Ihre ukrainischen Kollegen wissen dagegen nicht mehr ein und aus. Wie durch Schlafentzug Gefolterte hasten sie durch eine Menschenmenge, die sich durch eine Autoschlange hindurchzwängt in Richtung Polen. Mütter halten ihre Kinder an der Hand und wischen sich die Tränen weg.

Yaremchuk öffnet das Autofenster, stellt einer der Mütter Fragen. Sie weint, als sie erzählt, dass ihr Mann sie und die Tochter auf ihrem Arm zur Grenze gefahren hat. „Jetzt fährt er zurück in den Krieg“, sagt sie.

EU-Pass schützt ihn vor Einzug

Die ukrainische Regierung verkündete am zweiten Tag nach Beginn der russischen Invasion ein Ausreiseverbot für Männer im wehrfähigen Alter von 18 bis 60 Jahren. Sie müssen sich für die Mobilisierung zur Verfügung stellen. Yaremchuk ist froh, dass er keinen Bruder in diesem Alter hat. Sonst müsste er ihn zurücklassen. Er wollte ursprünglich die Schwester und den über sechzigjährigen Vater in Kiew in das Auto packen und über die Grenze nach Berlin bringen.

Sein EU-Pass schützt ihn davor, wie andere Ukrainer in seinem Alter vom Grenzschutz an der Ausreise gehindert zu werden. Doch der Krieg wirft alle Pläne über den Haufen. Die Familie ist vor den Kämpfen um Kiew nach Ternopil in der Westukraine geflohen. Immerhin liegt das nicht weit von der ukrainisch-polnischen Grenze entfernt.

Im Auto herrscht Schweigen über die gerade erlebte entsetzliche Szene. Eine Weile geht es zügig voran auf der Autobahn Richtung der 70 Kilometer entfernten westukrainischen Großstadt Lwiw mit ihren 721.000 Einwohnern. Auf der gegenüberliegenden Spur Richtung Polen staut sich der Verkehr in einer endlosen Schlange.

Doch dann wird der Verkehrsfluss auch auf der Strecke nach immer zäher, bis er tröpfelt und nicht mehr vom Fleck kommt. Was in denn da los? Wer will denn noch rein in die Ukraine? Yaremchuk verweist auf das Gespräch mit der Mutter am Terminal. „Das sind die Männer, die ihre Familien an die Grenze gebracht haben. Die müssen sich verabschieden und dann wieder zurückfahren“, vermutet er.

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Plötzlich taucht die Ausfahrt zu einer Landstraße auf. Yaremchuk manövriert sein Auto aus der Schlange und braust davon. Die Strecke geht über Kilometer durch eine mit Nebel bedeckte Winterlandschaft und verschlafene Dörfer über eine verlassene Teerpiste. Doch als das Navi Yaremchuk auf eine andere Landstraße Richtung Lwiw führt staut sich wieder der Verkehr. Eine im Schritttempo rollende Blechlawine verschluckt Yaremchuks Auto und wird es erst in 40 Kilometer Entfernung in den Vororten von Lwiw wieder ausspucken.

30 Kilometer zu Fuß

Junge schieben rechts und links neben der Spur die Alten in Rollstühlen und Mütter ihre Kinderwägen vor sich her. Autos liegen verlassen am Straßenrand. Sie gehen zu Fuß die 30 Kilometer bis zur Grenze. Auf der Straße sind manche Autos eingekeilt. Denn der Verkehr rollt auf nur einer Spur in beide Richtungen. Hilflose Polizisten quetschen sich zwischen den Fahrzeugen hindurch. Einige Autofahrer am Rand des Staus machen es sich leicht. Sie biegen auf den Grünstreifen ab und brausen über die Äcker davon in Richtung Polen. Auf den Straßen der Ukraine herrscht ein Chaos, in dem die Menschen auf sich gestellt sind.

Yaremchuk sieht ein, dass der Krieg schon wieder seine Pläne über den Haufen wird. Er ruft seine Familie an. Die Gespräche sind untermalt vom Hupkonzert und vom Schimpfen und Jammern von allen Seiten. „Es hat keinen Sinn, hier kommen wir niemals durch nach Polen“, sagt er. Er telefoniert auch mit seinen Freunden in Berlin. Die warten auf ein Startsignal des Filmemachers, um ebenfalls an die polnisch-ukrainische Grenze zu fahren. Dort wollen sie Geflüchtete mitnehmen und nach Berlin fahren.

Ukrainer stehen in Polen an der Grenze an, um zurück in ihre Heimat zu kommen.
Ukrainer stehen in Polen an der Grenze an, um zurück in ihre Heimat zu kommen. | Bild: Michael Kappeler

15 Berliner Freunde seien bereit, Ukrainer bei sich aufzunehmen. Er ruft sie nacheinander an und entwickelt einen neuen Plan. „Ich hole meine Familie in Ternopil ab und dann versuchen wir uns südlich an die Grenze zur Slowakei durchzuschlagen. Ich habe gehört, dass es noch weniger chaotisch zu geht“, sagt er. Auch für die Berlin gilt es nun, nach Süden in die Slowakei zu fahren.

Die Wege trennen sich mit einer festen Umarmung in der Altstadt von Lwiw. Die Menschen hasten stumm wie Geister durch die prächtigen Straßen. Es ist fast unmöglich in der Stadt ein freies Hotelzimmer zu finden. Im Mister-Hostel an der Bankivska-Straße klappt es dann doch. Über die Flure schlurfen nun die Geflüchteten aus Kiew. Sie scheinen mit ihren Smartphones verwachsen.