Herr Palmer, Glückwunsch zur gewonnenen Wahl!

Vielen Dank!

52 Prozent im ersten Wahlgang. Hatten Sie das erwartet?

Mein Ziel war, im ersten Wahlgang zu gewinnen, und ich war nicht überrascht, als es gelungen ist, aber ich bin sehr dankbar für das erneute Vertrauen der Tübinger.

Am Wahlabend haben Sie erwähnt, dass Sie Morddrohungen erhalten haben. Wie gehen Sie damit um?

Ich lege die weg und verbuche sie als schlecht gemachte Einschüchterungsversuche.

Aber Sie gehen auch juristisch dagegen vor?

Ja. Es gibt leider einen etablierten Prozess in der Stadtverwaltung. Ich habe in den vergangenen Jahren so viele üble Beleidigungen und Drohungen erhalten, dass das immer unmittelbar angezeigt wird.

Und wie verkraftet das Ihre Familie?

Von der versuche ich das fernzuhalten.

Im Vorfeld der Wahl ging es ganz viel um Stil-Fragen. Was hat denn die Wahl aus Ihrer Sicht entschieden?

Mein Eindruck ist, dass die Wählerschaft es schätzt, dass Tübingen gut regiert wird, und dass sie dafür gestimmt hat, das fortzusetzen. Ob das jetzt wirtschaftlicher Erfolg, ein solider Haushalt oder ein schnell schrumpfender CO2-Fußabdruck ist oder eine optimal ausgebaute Kinderbetreuung: Tübingen steht überall gut da. Und das wurde honoriert.

Vorreiter in Sachen Klimaschutz: Boris Palmer besichtigt eine Dach-Solarthermieanlage.
Vorreiter in Sachen Klimaschutz: Boris Palmer besichtigt eine Dach-Solarthermieanlage. | Bild: Bernd Weißbrod/dpa

Was haben Sie sich als Nächstes vorgenommen?

Ich habe ein 100-Tage-Programm formuliert und ein Wahlprogramm für acht Jahre. Dabei handelt es sich nicht um Prosa, sondern um konkrete Ziele. Den ersten Punkt haben wir diese Woche schon beschlossen, nämlich einen Rettungsschirm für den Tübinger Einzelhandel. Das größte Vorhaben ist eindeutig, die Stadt bis 2030 klimaneutral zu machen.

Selbst in einer Uni-Stadt wie Tübingen spielen gesellschaftspolitische Positionen, mit denen Sie angeeckt sind, also nicht die bestimmende Rolle. Was sollten die Grünen aus dieser OB-Wahl lernen?

Ich glaube, es lohnt sich, dass wir miteinander den Stellenwert der sogenannten Identitätspolitik diskutieren. Es steht fest, dass ich da in meiner Partei eine Minderheitenmeinung vertrete. In der Gesellschaft ist es eher umgekehrt, wenn man das Wahlergebnis anschaut.

Vor allem die jungen Grünen stellen die Identitätspolitik über alles andere und wollen da auch keinen Widerspruch mehr zulassen. Ich würde mir erhoffen, dass eine Minderheit in der Partei da anderer Auffassung sein darf und trotzdem dazugehören kann.

Parteifreund Rezzo Schlauch (rechts) vertrat Boris Palmer im Parteiausschlussverfahren.
Parteifreund Rezzo Schlauch (rechts) vertrat Boris Palmer im Parteiausschlussverfahren. | Bild: Christoph Schmidt/dpa

Stellen Sie jetzt gerade die Bedingungen für eine Rückkehr in die Partei?

Nein, die Wiederaufnahme ist ja schon beschlossen. Sie findet am 1. Januar 2024 statt. Was ich gerade beschreibe, ist, worüber wir inhaltlich miteinander sprechen sollten. Ich mache gerne das Angebot, darüber ins Gespräch zu kommen. Das habe ich mir immer gewünscht. Ich hoffe, dass das gelingt.

Winfried Kretschmann setzt darauf, dass Sie früher zurückkehren. Wäre das auch in Ihrem Interesse?

Wie lange die Gespräche dauern und zu welchem Ergebnis die kommen, wird man sehen. Ein Grund zur Eile besteht nicht. Ob ich jetzt in einem halben oder einem dreiviertel Jahr wieder das Recht habe, zu einem Parteitag zu fahren, das ist eher von symbolischer Bedeutung. Der Inhalt der Gespräche ist das Wesentliche.

Hat sich eigentlich Annalena Baerbock schon bei Ihnen gemeldet und gratuliert?

Ich habe mich über die Glückwünsche des Vizekanzlers sehr gefreut, und der Parteivorsitzende im Bund und die Vorsitzende im Land haben auch gratuliert. Das hätte ich vor einem halben Jahr nicht erhofft.

Sie haben schon angekündigt, dass Sie sich wieder in Parteidebatten einmischen wollen. Geht es dann da vor allem um Identitätspolitik?

Ich finde ja, die Identitätspolitik ist nachrangig. Damit beschäftige ich mich, weil andere das Thema nach vorne ziehen. Mir geht es um die ökologische Transformation, also den Nachweis, dass es möglich ist, Wohlstand, Wirtschaftswachstum, Klimaschutz und Artenschutz zusammenzubringen.

Darüber würde ich viel lieber sprechen, auch darüber, was sich vom Tübinger Vorbild abgucken lässt. Zum Beispiel, wie man in Autobahnohren (geschwungene Autobahnabfahrten, Anmerkung der Redaktion) Solaranlagen baut. Das sollte überall gemacht werden.

Auch bei Regen ist der 50-Jährige mit dem Fahrrad unterwegs.
Auch bei Regen ist der 50-Jährige mit dem Fahrrad unterwegs. | Bild: Christoph Schmidt/dpa

Beim Bundesparteitag der Grünen konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Partei den Streit nicht mehr für ganz so wichtig hält. Streitpunkte wurden von der Antragskommission eingeebnet, schon bevor sie zur Diskussion kamen. Haben die Grünen das Streiten verlernt oder muss man so sein, wenn man regiert?

Der Weg von der Anti-Parteien-Partei, die da 1980 gegründet wurde, zur heutigen Partei ist schon sehr weit. Aus meiner Sicht positiv ist ja, dass die Realos sich mittlerweile vollständig durchgesetzt haben – im Sinne von: Regierung erfordert Kompromisse.

Die Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland ist ja ein radikaler Bruch mit der Programmatik vor der letzten Wahl. Das Gleiche gilt für den teuren Einkauf von Kohle und Gas und den Bau von LNG-Terminals. Da ist teilweise eine 180-Grad-Kehrtwende erforderlich gewesen.

Dass die Partei das mitmacht, finde ich gut, weil es notwendig ist. Aber ich finde, die Kehrseite dieser Flexibilität ist, dass Debatten auf anderen Feldern dann ganz vermint sind. Da, wo man nicht zu solchen Regierungskompromissen gezwungen ist, gibt es besonders wenig Spielraum für Vielfalt.

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Was hat der ganze Eklat bei Ihnen verändert? Werden wir in Ihrer neuen Amtszeit vielleicht einen ganz anderen Boris Palmer erleben? Einen, der seinen Facebook-Finger besser unter Kontrolle hat?

Ich habe mir ein Lernfeld vorgenommen, nämlich so zu formulieren, dass ich nicht so oft missverstanden werden kann. Das ist oft schwierig. Aber das muss ich mir zurechnen lassen, dass viele Diskussionen gezeigt haben, dass mein eigentliches Ziel gar nicht verstanden wurde.

Da besser zu werden, ist schon im Sinne der Sache geboten. Weniger Streit über Dinge, die ich gar nicht gemeint habe. Mehr Streit über die notwendigen Themen.

Haben Sie jemals überlegt, ganz rauszugehen aus Facebook?

Habe ich schon hin und wieder. Bisher überwiegt der Gedanke, dass man solch eine große Öffentlichkeit nicht sich selbst überlassen sollte.

Palmer vor dem historischen Rathaus in Tübingens Altstadt.
Palmer vor dem historischen Rathaus in Tübingens Altstadt. | Bild: Bernd Weißbrod/dpa

Anderes Thema: Sie haben sich während der Flüchtlingskrise 2015/16 gegen die Kanzlerin positioniert. Irgendwie haben wir‘s aber schon geschafft, oder?

Stimmt, die Kanzlerin hat es geschafft, mit Erdogans Hilfe den Zustrom radikal zu unterbinden. Dadurch konnten wir die bis dahin aufgenommenen Menschen auch nach und nach versorgen. Aber ohne diesen Deal hätten wir es nicht geschafft.

Gerade kommen wieder ähnlich viele Menschen nach Deutschland. Steuern wir auf eine neue Flüchtlingskrise zu oder sind wir schon mittendrin?

Wir sind mittendrin, weil die Unterbringungskapazitäten allmählich erschöpft sind. Wir müssen wieder genau die gleichen Fragen stellen wie 2015, nämlich: Zu welchen Bedingungen können wir Hilfe leisten und was bedeutet das für uns? Wenn der Anspruch die Vollintegration in unserer Gesellschaft ist, sind wir jetzt am Ende, weil es bereits dazu führt, dass Menschen keine Wohnung mehr finden, dass Schulen nicht mehr Unterricht halten können, dass Kita-Plätze fehlen – dass einfach die Infrastruktur überlastet wird, weil zu viele Menschen neu hinzugekommen sind, die nicht eingeplant gewesen sein konnten.

Rechtskreiswechsel mit vollen Hartz-IV-Bezügen ab dem ersten Tag suggeriert Vollintegration in unsere Gesellschaft. Das wird nicht mehr lange gutgehen. Wenn es uns genügt, erst mal Menschen vor dem Krieg zu schützen, dann zeigt Polen, das relativ gesehen sechsmal mehr Geflüchtete aufgenommen hat, dass das schon machbar ist.

Aber dann werden Massenunterkünfte nötig. Dann wird man den vollen Zugang zu Bildung und Kitas nicht mehr gewährleisten können für die ukrainischen Kinder. Da habe ich den Eindruck, dass man sich vor der harten Wirklichkeit wegzuducken versucht, wie 2015 auch.

Der Landrat im Landkreis Tübingen sagt, das Problem sei, dass ukrainische Flüchtlinge Sozialhilfe beziehen. Er befürchtet Pull-Effekte. Machen Sie in Tübingen diese Erfahrung?

Ich habe vom Landrat überzeugende Belege vorgetragen bekommen – dass nämlich deren Sichtung der Pässe zeigt, dass zunehmend Menschen bei uns ankommen, die zuvor in Südeuropa über längere Zeit sicher untergebracht waren. Dass die besseren Bedingungen bei uns dafür der Grund sind, halte ich für sehr plausibel.

War es ein Fehler, ukrainische Kriegsflüchtlinge anders zu behandeln als syrische?

Ich sehe dafür jedenfalls keinen echten Grund. Kriegsflüchtlinge sind Kriegsflüchtlinge. Warum sollen die ukrainischen besser behandelt werden?