Der 19. April 2005 war für Sie wie ein Sechser im Lotto: Sie hatten sich seit Jahren mit Joseph Ratzinger befasst, und nun wird dieser Bayer zum Papst gewählt und die ganze Welt sieht zu.

Ich stand an diesem Abend unter einhunderttausend in Hochspannung wartenden Menschen auf dem Petersplatz. Ich hatte stark das Gefühl, dass Ratzinger der nächste Papst sein wird. Und dann verkündet Kardinal Estévez auf dem Balkon des Petersdomes dann tatsächlich seinen Namen. Es war umwerfend. Die Interviewbücher, die wir zusammen gemacht hatten, schossen sofort auf Platz 1 und 2 der Bestsellerlisten.

„Sie passten gut zusammen: Ein weiser Mann mit schlohweißem Haar und ein gutaussehender, immer gut gelaunter junger Monsignore an ...
„Sie passten gut zusammen: Ein weiser Mann mit schlohweißem Haar und ein gutaussehender, immer gut gelaunter junger Monsignore an seiner Seite,“ sagt Seewald über die beiden. | Bild: Michael Kappeler

Am Anfang waren Sie ihm gegenüber sehr kritisch eingestellt. Sie suchten ihn nicht als Katholik auf, sondern als Skeptiker mit dem Hintergrund eines Alt-68ers?

Das war so: Ein Kollege im Magazin der Süddeutschen Zeitung schlug vor, ein Porträt über Ratzinger zu machen, den Panzerkardinal, die Schreckgestalt. Wir hatten uns in der Redaktion vorgenommen, genauer hinzuschauen als andere, tiefer zu graben. Nach dem Motto: Nichts ist spannender als die Wahrheit. So wurde ich im November 1992 nach Rom geschickt, zu einem ersten Vis-á-vis mit dem damaligen Glaubenspräfekten. Der Kardinal und ich lagen weit auseinander. Ich war zwar längst nicht mehr Kommunist wie in meiner Jugendzeit, war aber seit vielen Jahren aus der Kirche ausgetreten. Der Artikel war nicht unkritisch, aber er war eine ehrliche Annäherung, ohne die üblichen Klischees.

Was ist dann passiert?

Als junge Revoluzzer hatten wir die Vorstellung, dass ohne Kirche, ohne die überkommenen Zwänge, das Leben freier, humaner, glücklicher würde. Als politischer Redakteur beim „Spiegel“ konnte ich jedoch beobachten, dass wir mit dem Glauben auch Dinge verloren, auf die man einfach nicht verzichten kann? Die Entwicklung unsere Kultur, die Orientierungslosigkeit, der Ego- und Optimierungswahn, all das hat mich nachdenklich gemacht. So begann ich mich wieder mit unseren Überlieferungen zu beschäftigen, vor allem auch jenen aus der Religion. Um dann zu sehen, welche Faszination, welches Abenteuer, welcher Trost und vor allem welche Wahrheit im Katholizismus liegt.

Was hat die Bekanntschaft mit einem der berühmtesten Kardinäle der katholischen Kirche bei Ihnen persönlich bewirkt?

Da war ein Mensch, der aus der Überlieferung der Kirche und aus seiner persönlichen Reflexion kluge und treffende Antwort geben konnte, gerade auch auf die Fragen unserer Zeit. Da war nichts Formelhaftes, wie man das bei vielen Kirchenleuten kennt. Vor allem war es authentisch. Getragen von jemandem, der das, was er sagte, auch selbst leben wollte, mit all den menschlichen Schwächen natürlich. Ich war längst schon wieder auf dem Weg. Quasi zurück zu den Wurzeln. Vor allem seit meine zwei Söhne getauft wurden. Mir wurde klar, man muss sich erst in die Kirche hineinbegeben, um wirklich zu verstehen, was da ist. Kirchenfenster leuchten eben nur von innen.

Wie erlebten Sie Joseph Ratzinger als Menschen?

Überhaupt nicht als Kirchenfürst, sondern als originellen, demütigen und bodenständig und heimatverbunden gebliebenen Menschen, der es einen leicht macht, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Er ist ausgesprochen liebenswürdig, gewiss auch ein Kämpfer, aber mit gutem Humor gesegnet.

Eine von vielen Begegnungen: Der damalige Papst Benedikt erhält das Buch, das er gemeinsam mit Peter Seewald (rechts) gemacht hat. Ganz ...
Eine von vielen Begegnungen: Der damalige Papst Benedikt erhält das Buch, das er gemeinsam mit Peter Seewald (rechts) gemacht hat. Ganz links: Privatsekretär Georg Gänswein. | Bild: AFP

Ohne Schatten kein Licht. Hat dieser Mann auch Schwächen?

Gewiss keine charakterlichen, jedenfalls keine, von denen ich wüsste. Mich erstaunt noch immer, mit welcher Engelsgeduld und Leidensbereitschaft er die Schläge eingesteckt hat, die auf ihn eingeprasselt sind. Klar, Ratzinger hat auch ausgeteilt. Aber er hat nie mit gleicher Münze zurückbezahlt, etwa die jahrzehntelangen Angriffe seines ehemaligen Professorenkollegen Hans Küng, der ihn mit den schlimmsten Verunglimpfungen überzogen hat und dadurch mit verantwortlich ist für das Zerrbild von Ratzinger. Klar gibt es auch Schatten. Ratzinger selbst hat zum Beispiel seine Personalpolitik als seine eher schwächere Seite bezeichnet. Zudem neigt er zu einer Art von Nibelungentreue und scheute davor zurück, weniger fähige Leute aus dem Amt zu entlassen.

Er saß acht Jahre lang auf dem Stuhl Petri. War er ein großer Papst?

Darüber wird die Geschichte urteilen. Fest steht, dass Ratzingers Werk bereits vor seinem Pontifikat groß und bedeutend war. Er stand für seine Kirche fünf Jahrzehnte lang an vorderster Front, ein Vierteljahrhundert davon an der Seite von Johannes Paul II. Als 35-jähriger Star-Theologe hat er den Modernisierungsschub des Konzils maßgeblich mitgestaltet, war aber auch einer der ersten, die vor dem Missbrauch des Vatikanums warnte. Als Papst legte er angesichts eines kaum dagewesenen Verfalls des Christentums den Schwerpunkt nicht auf ein Herumbasteln an Strukturen, sondern auf die Erneuerung des Glaubens selbst.

Was bleibt von Papst Benedikt XVI. – über den Tag hinaus?

Nach meiner langjährigen Arbeit an der Biografie bin ich davon überzeugt, dass Ratzinger einer der verkanntesten Persönlichkeiten unserer Zeit ist. Eine der Formeln, mit der man ein gewisses Bild gestalten möchte, ist beispielsweise die in Deutschland verbreitete Losung, Ratzinger sei als Papst die falsche Wahl und seine größte Tat sei sein Rücktritt gewesen. Jeder, der sich auch nur annähernd mit dem Pontifikat Benedikt XVI. befasst, kann darüber nur den Kopf schütteln.

Wichtigster Mann in seiner Umgebung ist seit vielen Jahren Georg Gänswein. Wie sehen Sie ihn?

Sie passten gut zusammen: Ein weiser Mann mit schlohweißem Haar und ein gut aussehender, immer gut gelaunter junger Monsignore an seiner Seite, das gab dem Auftritt des Papstes etwas Fröhliches. Nach der langen Leidenszeit von Johannes Paul II. war das ein erfrischender neuer Aufbruch.

Der Privatsekretär Georg Gänswein (links) und Peter Seewald stellen in München den Band „Letzte Gespräche“ vor (2016). Jetzt ...
Der Privatsekretär Georg Gänswein (links) und Peter Seewald stellen in München den Band „Letzte Gespräche“ vor (2016). Jetzt legt Seewald seine mehr als 1000 Seiten starke Biografie über Joseph Ratzinger vor. | Bild: Matthias Balk/dpa

Über Georg Gänswein hört man auch kritische Stimmen, gerade in Deutschland. Er wirke hinter den Kulissen als Graue Eminenz und steuere den hinfällig gewordenen Benedikt, heißt es.

Gänswein selbst räumte ein, speziell in der Zeit der Einarbeitung gelegentlich etwas zu barsch reagiert zu haben. Aber Graue Eminenz oder eine Art Papst-Flüsterer? Das liegt völlig daneben. Als Sekretär hatte er die Aufgabe, dem Heiligen Vater Luft zu verschaffen, ihn vor Überforderung zu schützen. Und wer Ratzinger kennt, weiß, dass er sich ohnehin nichts vorschreiben lässt.

Georg Gänswein hat danach sein Amt als Protokollchef aufgeben müssen. Wie sehen Sie das?

Naja, vielleicht hätte er in diesem Fall genauer checken sollen, was mit dem Zölibats-Aufsatz Benedikts angestellt werden sollte. Man darf dabei jedoch nicht übersehen, dass der Doppeljob als Sekretär Benedikt XVI. und als Protokollchef von Papst Franziskus eine extreme Anforderung ist. Nicht von ungefähr hatte Gänswein einen Hörsturz erlitten. Franziskus hat ihn ja auch nicht entlassen, sondern lediglich beurlaubt; nicht zuletzt deshalb, damit er wieder zu Kräften kommt.

Rechneten Sie 2013 damit, dass Benedikt XVI. zurücktritt?

Nein, für mich war das einen Schock wie für alle anderen auch. Allerdings hatte Ratzinger, wenn er hierfür eine Notwendigkeit sah, schon immer auch Dinge getan, die vor ihm noch niemand getan hatte. Und bereits in unserem Buch „Licht der Welt“ sagte er 2010, ein Papst, der sein Amt körperlich und seelisch nicht mehr ausfüllen kann, hat nicht nur das Recht, sondern mitunter auch die Pflicht, zurücktreten.

Demnächst kommt Ihre Biografie über diesen Mann heraus. Vom Umfang her das dickste Werk, das über Leben und Werk von Ratzinger bisher verfasst wurde.

Es stecken fünf Jahre harter Arbeit drin. Es gab ja noch kein Werk, das den Anspruch einer Gesamtschau von Leben, Werk und Persönlichkeit des deutschen Papstes hätte erfüllen können. Mit umfassenden Recherchen, Gesprächen mit rund 100 Zeitzeugen und engsten Wegbegleitern, und vor allem mit dem Protagonisten selbst, der überraschende Auskünfte gab.

Der alte Papst ist sehr hinfällig geworden. Ist Ihr Buch das Schlusswort einer seltsamen, vielleicht einzigartigen Beziehung?

Seltsam ist diese Beziehung keinesfalls. Wir haben vier Interviewbücher zusammen gemacht, aber wir sind nicht das, was man als Freunde bezeichnen könnte. Natürlich hat sich in dem Vierteljahrhundert, in dem ich Joseph Ratzinger als Journalist begleite, ein gewisses Vertrauensverhältnis gebildet, aber ich habe immer auch auf die nötige journalistische Distanz geachtet. Eine Hofberichterstattung hätte keinen Wert.

Dieses Buch wirkt wie ein Schlussstrich. Was tun Sie danach, wo diese Wiese gemäht ist?

Zunächst erst mal ausruhen. Ich bin froh, dass diese Last, die einem bei einem Jahrhundertwerk wie dem von Benedikt XVI. auch überfordern muss, nicht mehr auf meinen Schultern liegt. Ich habe mir diese Wegbegleitung nicht ausgesucht. Es hat sich halt so ergeben. Nun ist die Aufgabe getan, und ich kann etwas anderes machen. Oder einfach nur leben.