Herr Stutz, gibt es in Zeiten von Corona verstärkt Demonstrationen auch mit Reichsbürgern oder Nazis?

In der französischen Schweiz ist der Widerstand gegen die Pandemie-Maßnahmen kein Mobilisierungsthema. Und wenn schon, kritisieren einzelne Rechtsextreme, dass Corona eine Folge der Globalisierung sei. Anders in der Deutschschweiz. Da gab es Demonstrationen in mehreren Städten, vorwiegend von esoterisch inspirierten Impfgegner und einigen Verschwörungsphantasten.

Aber die Beteiligung von Rechtsextremisten war gering. In Bern beispielsweise inszenierte sich der Pegida-Aktivist Ignaz Bearth. In Zürich war ein Holocaustleugner anwesend, der bis anhin nur in Deutschland öffentlich aufgetreten ist. Politisch bedeutend sind solche Veranstaltungen nicht.

„Die rechte Szene in der Schweiz ist ziemlich klein und kaum fähig zu mobilisieren.“Hans Stutz, Experte für ...
„Die rechte Szene in der Schweiz ist ziemlich klein und kaum fähig zu mobilisieren.“Hans Stutz, Experte für Rechtsextremismus in der Schweiz | Bild: Hans Stutz

Erleben Sie eine Zunahme von Rechtsextremismus in der Schweiz seit Beginn der Coronakrise?

Eigentlich nicht, und wenn schon dann Online. Zum Beispiel die Partei National Orientierter Schweizer (PNOS). Sie ist zurzeit die aktivste rechtsextreme Organisation in der Deutschschweiz. Auf der Webseite der Partei gibt es inzwischen drei Beiträge, die aber bereits zu zwei Strafanzeigen wegen Rassendiskriminierung (=Volksverhetzung, A.d.R.) geführt haben. Nach meiner Einschätzung ist eine Verurteilung sehr wahrscheinlich. Ein Parteiexponent verlangt explizit, die Sterilisierung der Juden.

Aber insgesamt habe die Rechtsextremen nicht mehr Präsenz erreicht. Es gab seit einiger Zeit kaum Demos von Rechtsextremen in der Deutschschweiz. Die Szene in der Schweiz ist ziemlich klein und kaum fähig zu mobilisieren.

Wie groß ist die Szene in der Schweiz?

In der Schweiz sind es momentan ein paar Hundert. Die Szene gelingt es in der deutschsprachigen Schweiz nicht, regelmäßig politische Arbeit zu leisten. In der Westschweiz ist es anders, da gibt es in Genf, Lausanne und auch im Kanton Wallis aktive politische Gruppen, die regelmäßig Versammlungen abhalten. In Genf besteht seit Jahren eine Gruppe, die neben politischer Bildung auch Kampfsporttraining durchführt und sich an Wettkämpfen mit französischen Rechtsextremisten misst.

Welche Orte sind einschlägig bekannt für solche Treffen und warum?

Nazidenkmäler oder Erinnerungen an Wehrmacht oder Waffen-SS gibt es in der Schweiz nicht. Aber patriotische Orte, sind bei Rechtsextremen als Veranstaltungsort beliebt. Sei es das Rütli, der Ort, wo die Schweiz gegründet worden sein soll. Oder Orte, wo Schlachtdenkmäler stehen – von Schlachten der alten Eidgenossen: Morgarten und Sempach etwa, Näfels und Laupen bei Bern. Die Treffen finden jedoch meist ohne Ankündigung und ohne Öffentlichkeit statt.

Wie gefährlich sind die Nazis in der Schweiz?

Das hängt davon ab, wie sie ‚gefährlich‘ definieren! Wenn es darum geht, Einfluss oder Macht zu erreichen, dann ist die Gefahr sehr gering. Gefährlich ist, dass aus dieser Szene Gewalttaten gegen Menschen dunkler Hautfarbe, unabhängig von der Staatsangehörigkeit, gegen nicht-europäische Einwanderer, gegen Schwule oder Linke gegen Juden und Muslime stattfinden könnten.

Wie oft kommt es zu solchen Anschlägen?

In den vergangenen Jahren gab es nur sehr wenige Angriffe.

Wie viele in der Szene besitzen Waffen?

Eine Zahl kann ich nicht nennen, aber wenn es Hausdurchsuchungen gibt, werden sehr häufig Waffen gefunden. Das stellt auch der Staatsschutz fest. In erster Linie geht es da um größere Schusswaffen, allenfalls auch Stichwaffen.

Im Fall des deutschen Rechtsextremen Matthias M., der eine Niederlassungsbewilligung in der Schweiz hat, wurden gleich mehrere Waffen gefunden. Wollte er in der Schweiz die rechtsextreme Szene ausbauen?

Davon ist mir nichts bekannt. Er führte ein Tattoo-Studio und soll Anderen auch rechtsextreme Zeichen gestochen haben. Bekannt ist mir nur, dass er mithalf, das große rechtsextreme Konzert in Unterwasser zu organisieren, indem er als Mieter der Konzerthalle auftrat. Aber die Organisatoren stammten aus Thüringen, wohin er selbst Verbindungen hat. In vier Wochen muss er im Kanton Zürich vor ein Gericht erscheinen, angeklagt des unerlaubten Waffenbesitzes und der Rassendiskriminierung.

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Ist er eher die Ausnahme oder gibt es auch andere deutsche Nazis, die in der Schweiz Zuflucht suchen?

Es gab in den vergangenen Jahren mehrere deutsche Rechtsextremisten, die in die Schweiz zogen. Nach meiner Einschätzung ist dies eine Folge der Personenfreizügigkeit, meist wegen einer Arbeitsstelle, gelegentlich auch wegen einer Beziehung. In einzelnen Fällen auch um deutschen Strafverfolgern die Arbeit zu erschweren. Aber gemeinsame Projekte von Rechtsextremisten aus Deutschland und der Schweiz sind selten. Gelegentlich treten deutsche Rechtsextreme in der Schweiz auf oder umgekehrt, aber mehr auch nicht.

Wie sieht es mit den Reichsbürgern in der Schweiz aus? Profitieren sie von der Krise?

Reichsbürger sind in der Schweiz unbedeutend. Auch in Deutschland bilden sie ja keine organisierte Bewegung, viele sind verschrobene Einzelgänger. Gleichwohl sind einige von ihnen gefährlich, da sie bewaffnet sind und sich berechtigt fühlen, Gewalt anzuwenden. Zu den bekannten Wortführern in Deutschland gehört der Schweizer Bernhard Schaub. Als Adresse gibt der Holocaust-Leugner eine Kleinwohnung in Kreuzlingen an, tatsächlich wohnt er aber in der in der Nähe von Greifswald.

Ist dieser Reichsbürger aus der Schweiz unter den deutschen Reichsbürgern eine Größe?

Er ist in der Neonazi-Szene international bekannt und tritt regelmäßig in Deutschland bei Veranstaltungen als Redner auf. Vergangene Woche beispielsweise mobilisierte er für eine Kundgebung beim Bismarckdenkmal in Berlin. Er fordert den deutschen Kaiser zurück und das Ende der „EU-Zwangsherrschaft“ und die Wiedereinsetzung der Reichsgesetze von 1918. Die Schweiz soll seiner Meinung nach an Deutschland angeschlossen werden und gemeinsam mit Österreich ein „Kerneuropa“ bilden. Der Mann ist aus der Zeit gefallen.

Inwiefern begünstigt eine Partei wie die SVP nationalistisches Denken? Werden rechtsextreme Äußerungen durch Parteien wie diese wieder gesellschaftsfähig?

In der Schweiz gibt es eine lange Tradition diskriminierender Vorstellungen gegen wechselnde Minderheiten. Früher gegen die Juden, dann gegen die Italiener, die Tamilen, die Kosovaren, heute vor allem gegen die Muslime. Dieser gesellschaftliche akzeptierte Diskriminierungswillen bestärkt Rechtsextreme und liefert ihnen Angriffsobjekte. Man darf aber auch nicht außer Acht lassen, dass der Schweizer Nationalismus keine nationalsozialistische Tradition hat, im Gegenteil: Nach 1945 inszenierte er sich als Anti-Nazi, weil man die Schweizer Unabhängigkeit im 2. Weltkrieg gegen die Nazis verteidigt habe.

Trotzdem gibt es auch innerhalb der SVP immer wieder fragwürdige Äußerungen, die man als rechtsextrem werten kann…

Das stimmt. Aber die Wurzeln des Schweizer Nationalismus sorgen auch dafür, dass NS-Gedankengut schneller geahndet wird als beispielsweise bei der deutschen AfD.

Fühlen sich Rechtsextreme von der SVP gut vertreten?

Sie sehen jedenfalls selten in der SVP einen Gegner. Vor allem, wenn es um Einwanderung und Einbürgerungen geht. Sie kritisieren bestenfalls, die SVP sei kapitalistisch und eine Bonzen-Partei.

Wie sattelfest ist die SVP derzeit? Bei den letzten Wahlen machte sie ja wieder Verluste…

Ja, aber sie blieb im Parlament (Nationalrat) die stärkste Partei. Doch die Partei steckt in einem Dilemma. Und dies seit den 1980er Jahren, als sie sich nach rechts zu radikalisieren begann und es ihr gelang, die Wählerinnen und Wähler der „Überfremdungsparteien“ für sich zu gewinnen. Seit diesen Jahren ist sie immer wieder gezwungen Mitglieder aus der Partei zu drängen, nachdem deren rassistische bzw. Nazi-haften Äußerungen skandalisiert worden sind.

Die Partei hat eine selten beachtete Schwäche. Sie ist in Kantons- oder Stadtregierungen untervertreten, weil sie bei Wahlen selten Kandidaten stellen kann, die mehrheitsfähig sind. Vor allem in Städten kommt eher ein Grüner in der Regierung als ein SVPler. In der Stadt Zürich beispielsweise ist die SVP im Parlament zwar eine starke Partei, doch seit 30 Jahren nicht mehr in der Regierung. Die SVP ist zwar laut und hetzerisch, aber nicht so bedeutend, wie es häufig scheint.