Alice Weidel ist schwer zu fassen. Die Politikerin, die die zweitstärkste Oppositionspartei im Bundestag anführt, bekommt man in ihrer baden-württembergischen Heimat selten leibhaftig zu Gesicht. Sechs Mal war sie laut ihrem Pressesprecher im vergangenen Jahr bei Terminen im Bodenseekreis, die waren allerdings nicht alle öffentlich.

Für Mitte Dezember ist ihr Auftritt beim Wahlkampfauftakt im Südwesten angekündigt – doch auf dem Podium der Rottweiler Stadthalle glänzt sie durch Abwesenheit. Als AfD-Landesvorsitzender Emil Sänze berichtet, dass der Stargast des Abends wegen dringender Arbeit in Berlin gebunden ist, geht ein Raunen durch die vollbesetzten Reihen, die sich später merklich leeren.

Weidel bringt den Saal zum Johlen

Draußen vor der Halle haben sich die Gegendemonstranten versammelt, ein Bündnis aus 30 Parteien, Vereinen, Gewerkschaften und Kirchen, die die seit Jahren in Rottweil stattfindenden Großveranstaltungen mit Protest begleiten. Thomas Busch, der Organisator von „Rottweil bleibt bunt“, vermutet einen PR-Trick hinter dem angekündigten Auftritt: „Das hat Sänze geschickt gemacht. Es war schon seit Tagen klar, dass sie nicht kommt.“

Die mit den blauen Bändern dürfen abstimmen. Bis es zur Wahl kommt, ist aufgrund der komplizierten Prozedur vielfaches Handheben nötig.
Die mit den blauen Bändern dürfen abstimmen. Bis es zur Wahl kommt, ist aufgrund der komplizierten Prozedur vielfaches Handheben nötig. | Bild: Hilser, Stefan

Zumindest Teile des Publikums drinnen sind vor allem angereist, um sie zu sehen: Alice Weidel, am 6. Februar 46 Jahre alt geworden, Volkswirtin, verpartnert mit einer Schweizerin, die aus Sri Lanka stammt, Kanzlerkandidatin der AfD – und ein Liebling der Parteibasis.

Die Begeisterungen bei Parteitagen ist nie größer, als wenn Weidel abfällige Witze über Regierungsmitglieder reißt und Karl Lauterbach nachäfft, wie zum Beispiel beim EU-Wahlkampfauftakt der Partei in Donaueschingen im April 2024. Es wirkt ein bisschen wie eine Comedy-Show, wenn Weidel spricht. Sie bedient meist genau das, was das Publikum hören will: Wenn sie ordentlich auf die Grünen draufhaut, johlt der Saal.

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Das Gesicht der Partei im Höhenflug

Drei Wochen nach ihrem Rottweiler Nicht-Auftritt kommt sie dann doch in die Region. Es ist der 7. Januar, als Weidel in einem holzvertäfelten Nebenraum des Graf-Zeppelin-Hauses in Friedrichshafen von 38 AfD-Mitgliedern (von den 180, die es im Bodenseekreis gibt) zur Wahlkreiskandidatin gekürt wird. Öffentlich gemacht hatte die AfD den Termin nicht, das Verhältnis zur örtlichen Presse ist angespannt.

Trotzdem hatten einige Pressevertreter davon Wind bekommen: Der Schweizer Fernsehsender SRF ist da, außerdem das ZDF, das gerade ein Porträt über Weidel dreht, und die „Zeit“, die in den Tagen danach eine große Geschichte zur vermutlich prominentesten Überlingerin auflegen wird.

Weidel ist als Kanzlerkandidatin das Gesicht der AfD, die sich seit Monaten im Höhenflug befindet. In den Umfragen liegt die Rechtsaußenpartei stabil auf dem zweiten Platz, zuletzt sahen die Institute sie bei um die 20 Prozent.

„Ich liebe sie“, sagt ein AfD-Mitglied

Auch Dieter Roth, einer von zwei AfD-Stadträten im Überlinger Gemeinderat, ist gekommen, um Weidel seine Stimme zu geben. Der Landwirt, der wegen der Corona-Politik und seiner Ablehnung der Windkraft in die AfD eingetreten ist, kennt die Weidels nach eigenen Angaben persönlich, seit die Familie vor einigen Jahren an den Bodensee zog.

Aufgewachsen ist Weidel mit zwei Geschwistern in Harsewinkel im Kreis Gütersloh. Der Landwirt lobt Weidel in den höchsten Tönen: Bescheiden und hochintelligent sei sie, man könne sich auf ganz sympathische Weise mit ihr unterhalten.

Applaus für die Spitzenpolitikerin: 38 AfD-Mitglieder aus dem Bodenseekreis sind bei der Nominierungsveranstaltung dabei.
Applaus für die Spitzenpolitikerin: 38 AfD-Mitglieder aus dem Bodenseekreis sind bei der Nominierungsveranstaltung dabei. | Bild: Hilser, Stefan

Weidel muss sich um die Zustimmung zu ihrer Kandidatur keine Sorgen machen. Auch die Zuneigung von Verena Knöpfler aus Oberteuringen, ebenfalls in Friedrichshafen bei der Nominierung dabei, ist ihr sicher: „Ich liebe sie“, sagt Knöpfler über Weidel. Diese sei eine verdammt gute Rednerin und mache keine leeren Versprechungen – dass letzteres erst noch geprüft werden müsste, ist für sie kein Thema. „Für mich wäre sie die perfekte Bundeskanzlerin.“

Überlingen oder doch Einsiedeln?

An ihrer Verwurzelung in Überlingen kommen regelmäßig Zweifel auf, nicht nur, weil sie so selten da ist. Ein Büro hat die Bundestagsabgeordnete in ihrem Wahlkreis auch nach acht Jahren nicht. Sie gibt an, keines zu finden, Vermieter würden durch „die öffentliche Aufmunitionierung“ abgeschreckt. Als Haupt- und Steuerwohnsitz nennt Weidel Überlingen, ihren Lebensmittelpunkt aber hat sie mit ihrer Ehefrau Sarah Bossard in Einsiedeln in der Schweiz, hier gehen auch die Kinder zur Schule.

Die AfD-Basis im Saal kennt Weidel offenbar nicht mehrheitlich persönlich, aber sie schüttelt jedem Einzelnen die Hand. „Schön, dass Sie da sind“, sagt Weidel und bewegt sich, wie immer mit Blazer und Einstecktuch, lächelnd durch die Reihen. In ihrer Rede entschuldigt sie sich dafür, dass sie selten da ist, bedankt sich, „dass Ihr mir den Rücken stärkt, obwohl Ihr wisst, dass ich viele Verpflichtungen habe und nicht so oft vor Ort sein kann, wie ich es gerne möchte.“

Vergleichsweise milde Rede

Weidels Rede in Friedrichshafen – sieben Minuten hat sie laut Protokoll dafür Zeit – fällt bei dieser Gelegenheit relativ sachlich aus. Keine Rede von „Kopftuchmädchen“, „Messermännern“, „Remigration“ oder „queer-wokem Wahnsinn“, wie sonst üblich. In der Migrationspolitik fordert sie „konsequente Ausweisungen“. Die Energiepolitik müsse vom „Kopf auf die Füße“ gestellt werden – auch für die Unternehmen vor Ort sei das wichtig.

Sechs Minuten hat Weidel Zeit für ihre Rede im Graf-Zeppelin-Haus.
Sechs Minuten hat Weidel Zeit für ihre Rede im Graf-Zeppelin-Haus. | Bild: Hilser, Stefan

Der Union bietet sich Weidel für eine „Große Koalition“ an. „Man kann nicht dauerhaft den Wählerwillen ignorieren.“ Zur Koalition mit der AfD wird es kaum kommen – die Union hat ein Bündnis kategorisch ausgeschlossen. Aber wenige Wochen später, in der letzten Januarwoche, wackelt die sogenannte Brandmauer trotzdem, als CDU-Chef Friedrich Merz im Bundestag seinen Entwurf für Gesetzesverschärfungen in der Migrationspolitik einbringt und es ihm zunächst egal ist, wer mit ihm stimmt. Weidel zeigt sich begeistert.

Als Bundeskanzlerin im Bodenseekreis?

Ist damit ein erster Schritt in Richtung österreichische Verhältnisse gemacht? Der Abend am 7. Januar in Friedrichshafen steht unter dem Eindruck des Rechtsrucks in Österreich. FPÖ-Chef Herbert Kickl schickt sich an, Kanzler zu werden. Weidel hat ihm persönlich gratuliert, sagt sie in ihrer Rede. Ein Stück scheint dadurch auch das Ziel der AfD nähergerückt.

Doch einen allzu optimistischen Fragesteller der Basis, der hofft, Weidel im Herbst dann als Bundeskanzlerin im Bodenseekreis begrüßen zu dürfen, bremst die Spitzenkandidatin ein: „So weit sind wir noch nicht. Ein Schritt nach dem anderen.“ Man arbeite daran. Das Szenario, das der AfD-Chefin vorschwebt: Noch eine instabile Koalition, die zerbricht – dann sei die AfD am Zug.

Nach langwierigen Vorbereitungen – aus halb Baden-Württemberg sind AfD-Mitglieder angereist, um als Versammlungsleiter, als Wahlleiter, Protokollanten, Zählkommission, Eidesleister und Vertrauenspersonen zur Verfügung zu stehen – ist es endlich so weit: Weidel wird mit 37 Ja-Stimmen und einer Enthaltung zur Kandidatin bestimmt.

Die Voraussetzung dafür, dass sie eine Woche später in Riesa zur AfD-Spitzenkandidatin gewählt werden kann. Aus einer Außenseiter-Position hat sich die Frau, die einst als Gegnerin der Euro-Rettung zur Partei stieß, an die Spitze geschoben.

Im Telegram-Chat wird fleißig gelästert

Widerstände hatte sie durchaus zu überwinden. Einer ihrer größten Kritiker im Südwesten, der Stuttgarter Bundestagsabgeordnete Dirk Spaniel, strich im vergangenen Herbst die Segel im Konflikt mit ihr und verließ die Partei. Diese werde „wie ein Gutshof“ geführt, der Führung unterstellte der ehemalige Landeschef „totalitäre Durchgriffe“.

In Chatgruppen der AfD auf Telegram ist von der „Merkelisierung der oligarchisierten AfD“ die Rede. Wer sich durch diesen Chat liest, dem wird klar: Weidels Aufstieg stößt nicht bei allen AfD-Anhängern auf Zustimmung. Die „wundersame Königin des eiskalten helvetischen Lächelns“, wie es im Chat heißt, hat Feinde.

Weidel-Widersacher Dirk Spaniel hat die Alternative für Deutschland verlassen.
Weidel-Widersacher Dirk Spaniel hat die Alternative für Deutschland verlassen. | Bild: Bernd Weißbrod, dpa

In diesen Tagen werden viele Porträts über die erste Kanzlerkandidatin der AfD geschrieben. Die Frau strahlt in ihrer Widersprüchlichkeit eine gewisse Faszination aus. Sie, die privat ein unorthodoxes Familienbild lebt – wie geht das mit den Wertevorstellungen der AfD zusammen, die auch beim Parteitag in Riesa wieder zum Ausdruck kommen, wo die AfD in ihr Wahlprogramm ihre Wunschvorstellung von der Familie aus Vater, Mutter, Kind definiert. Wie kriegt Weidel das zusammen? Steht sie hinter dem, was die AfD vertritt?

Frau der Widersprüche

Dass ihre Lebensweise im Widerspruch zu ihrer Partei steht, damit hat sie sich offenbar arrangiert. Kritische Worte dazu sind von ihr nicht zu hören. Sie sagt stattdessen, dass sie „das Vater-Mutter-Kind-Modell als Leitbild voll unterschreiben“ könne.

Alice Weidel lässt sich von den Mitgliedern im Wahlkreis Bodensee feiern.
Alice Weidel lässt sich von den Mitgliedern im Wahlkreis Bodensee feiern. | Bild: Hilser, Stefan

Und ihre politische Position? „Sie befördert zumindest den Rechtsradikalismus in Deutschland“, sagt der Kasseler Politikprofessor und AfD-Kenner Wolfgang Schroeder über die Spitzenkandidatin. Weidel habe in der AfD aufsteigen können, weil sie politisch so flexibel sei: „Sie pendelt zwischen einem konservativen Rechts- und einem Rechtsradikalkurs.“

Ist die Bürgerlichkeit nur Fassade?

Die einstige Eurorettungsgegnerin hat mit der Partei die Themen gewechselt. Heute verwendet sie in ihren Reden gerne das Wort Remigration, spielt mit der Offenheit des Begriffs, polemisiert gegen Zugewanderte, die sie für „bürgerkriegsähnliche Zustände auf deutschen Straßen“ verantwortlich macht.

Für inhaltliche Schwenks steht sie auch außenpolitisch zur Verfügung: Die Partei, die sonst gern nach Russland schielt, huldigt mit Weidel Donald Trump. Selbst die fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die Trump von den Nato-Partnern fordert, will sie mitmachen. Tech-Milliardär und Donald-Trump-Vertrauter Elon Musk macht im Gegenzug Wahlwerbung für die AfD, nur diese könne Deutschland retten.

Den radikalen Strippenziehern in der Partei passt Weidel gut in den Kram, dient sie doch als bürgerliches Aushängeschild mit Perlenkette, Einstecktuch und Doktortitel in Volkswirtschaft. Wer ihr in Riesa zuhört, muss sich allerdings fragen, ob die Bürgerlichkeit nicht einfach nur Fassade ist.