Für viele in Afghanistan weckt die Nachricht neue Hoffnung: Monatlich 1000 Menschen will die Bundesregierung bis September 2025 aus dem von den Taliban eroberten Land retten. 36.000 Menschen könnten damit gerettet werden – so viele wie über das Schutzprogramm für Ortskräfte der Bundeswehr.
Das neue Bundesaufnahmeprogramm soll ab sofort gelten, eine Koordinierungsstelle die Organisation übernehmen. Auf Anfrage will das Auswärtige Amt nicht bekannt geben, wer die Koordinierungsstelle führt. Der SÜDKURIER hat jedoch mit Vertretern der Stelle Kontakt aufgenommen, die selbst noch ungenannt bleiben will.
3,7 Millionen Euro für die Rettung
3,7 Millionen Euro hat sie nach eigenen Angaben vom Bund erhalten, um die Flucht der Afghanen, die in dem neuen Programm aufgenommen werden, zu organisieren. Die Summe war bislang nicht bekannt. Mit etwa 9000 Menschen rechnet die Koordinierungsstelle, wenn alle Hilfsorganisationen ihre Listen einreichen. Damit wären die ersten neun Monate des Programms schon ausgebucht.
Individuelle Bewerbungen für das Programm seien „in einer ersten Phase“ ohnehin nicht möglich, wie eine Sprecherin des Auswärtigen Amts auf Anfrage mitteilt. Die Meldungen laufen über ein vom Bundesinnenministerium entwickeltes Computerprogramm ein, heißt es dazu. Die Auswahl schließlich erfolgt über ein Scoring-Verfahren mit Punkten. Wie diese Bewertung genau funktioniert, sagt die Sprecherin nicht.
Die Flucht außer Landes und die Organisation der Flüge, die bei bisherigen Rettungsmissionen häufig von Pakistan und Iran starteten, sollen ebenso von der Koordinierungsstelle geplant werden.

Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg kritisierte das System scharf. Das Auswahlverfahren sei „extrem intransparent“, da nur ausgewählte Meldestellen die Daten von Hilfesuchenden aufnehmen dürften, über deren Aufnahme im Programm „dann ein Algorithmus entscheidet“. „Es besteht dabei die Gefahr, dass auch Menschen durchs Raster fallen, die dringend Schutz bräuchten“, sagt Geschäftsführerin Anja Bartel.
13 Hilfsorganisationen mutmaßlich beteiligt
Der Flüchtlingsrat ist nicht die einzige Organisation, die das System kritisiert. Im September hatten 13 Hilfsorganisationen, die nach eigenen Angaben an der Ausarbeitung des Programms beteiligt gewesen sind, einen Brandbrief an den Bundeskanzler gerichtet und die geplante Umsetzung des Bundesaufnahmeprogramms kritisiert. Wer tatsächlich zu den beteiligten „meldeberechtigten Stellen“ gehört, sagt das Auswärtige Amt auf Nachfrage nicht.
Schon vorab Kritik am Auswahlverfahren
„Das Auswahlverfahren für das Bundesaufnahmeprogramm droht in der jetzigen Konzeption aus unserer Sicht zu scheitern“, hieß es in dem Brief unter anderem. Unterzeichnet war das Schreiben unter anderem von Amnesty International, Pro Asyl, „Reporter ohne Grenzen“ und dem Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte.
Die Kriterien für das neue Bundesaufnahmeprogramm scheinen deutlich weiter gefasst als beim bisherigen Schutzprogramm für Ortskräfte der Bundeswehr, über das inzwischen nach Angaben des Bundesinnenministeriums 26.000 Menschen außer Landes gebracht wurden.
Unscharfe Kriterien
In Frage kommen nach den Kriterien der Bundesregierung Afghanen, die „sich durch ihren Einsatz für Frauen- und Menschenrechte oder durch ihre Tätigkeit in den Bereichen Justiz, Politik, Medien, Bildung, Kultur, Sport oder Wissenschaft besonders exponiert haben und deshalb individuell gefährdet sind.“
Ebenfalls in Frage kommen Menschen, die „aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität oder ihrer Religion“ verfolgt wurden, denen Gewalt angetan wurde oder dies droht.
Durchs Raster gefallen
Damit könnten aber auch Afghanen, die schon beim Schutzprogramm für Ortskräfte nicht in Frage kamen, erneut durchs Raster zu fallen. So wie den früheren afghanischen Offizier Khodadad Ataiy, über den der SÜDKURIER mehrfach berichtete.

Der 26-Jährige, der in Deutschland drei Jahre seine militärische Ausbildung durchlief, deutsch lernte, und nach Afghanistan zurückkehrte, um gegen die Taliban zu kämpfen, flüchtete vergebens nach Kabul, um einen der letzten Evakuierungsflüge zu bekommen.
Obwohl er die Bundeswehr oft begleitete und wegen seiner Deutschkenntnisse als Übersetzer aktiv war, hatte er keine Chance – weil sein Vertrag immer über afghanische Armee lief, nie über die Bundeswehr.
Hilfesuchende müssen in Afghanistan sein
Noch ein Kriterium wird für ihn zum Problem: Nur Menschen, die sich in Afghanistan aufhalten, kommen für das Programm in Frage. Wer schon außer Landes floh, aber keine Perspektive in den Nachbarländern hat, bleibt also außen vor. Ataiy musste notgedrungen nach Iran fliehen, die Taliban suchten nach ihm. Sein dortiges Visum ist längst abgelaufen, er hält sich mittlerweile illegal in der Nähe von Teheran auf.
Dass Menschen wie Ataiy nicht berücksichtigt werden, moniert auch der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, der dem Netzwerk der Flüchtlingsorganisation ProAsyl angehört.
Flüchtlingsrat kritisiert Ortsbindung
„Es ist bitter, dass Menschen, die bereits aus Afghanistan geflohen sind, keinerlei Zugang zum neuen Bundesaufnahmeprogramm haben – selbst wenn sie im Land ihres Aufenthalts nicht über sichere Aufenthaltstitel verfügen und daher grundsätzlich von einer Abschiebung zurück nach Afghanistan bedroht sind.“
Darüber hinaus zwinge die Regelung gefährdete Menschen dazu, in Afghanistan zu bleiben, „um überhaupt eine Chance zu haben, ins Programm reinzukommen“, so Bartel.

Oder sie müssen die Gefahr auf sich nehmen, zurückzukehren nach Afghanistan. Als Ataiy von dem Aufnahmeprogramm erfährt, schreibt er dem SÜDKURIER sofort. „Wenn ich dadurch nach Deutschland kommen kann, riskiere ich auch die Rückkehr nach Afghanistan“, schreibt er uns. Ataiy müsste also zurück nach Afghanistan, um dann wieder in den Iran gebracht zu werden, um von dort endlich einen Flug nach Deutschland zu bekommen.
Lukas Wehner, Regionalbeauftragter des Patenschaftsnetzwerks im Schwarzwald, will das verhindern und Ataiys Fall nochmals einbringen bei der neuen Koordinierungsstelle. Versprechen kann er ihm nichts.