Herr Tomuschat, haben die Kriegsverbrechen Russlands in der Ukraine im Vergleich zu anderen Konflikten ein besonders schlimmes Ausmaß angenommen?
Ja. Die russische Artillerie schießt breitflächig in Wohngebiete, die russische Luftwaffe bombardiert Städte und besiedelte Gebiete aus der Luft. Dabei treffen die Angreifer Wohnhäuser, Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten und sogar Atomkraftwerk-Komplexe. Solche Angriffe sind laut den Genfer Konventionen strikt verboten. Russland macht sich damit im Einzelfall eines Kriegsverbrechens schuldig, und es begeht ein Verbrechen der Aggression gegen einen anderen souveränen Staat.
Welche Strategie verfolgt Russland mit den Kriegsverbrechen?
Offensichtlich sollen die Truppen des russischen Präsidenten Wladimir Putin die ukrainische Bevölkerung terrorisieren. Putin will den Blutzoll unter den Zivilisten in die Höhe treiben und damit die politische Führung in Kiew zur militärischen Kapitulation zwingen.
Zudem will Putin auf dem Boden der Ukraine weitere unabhängige Volksrepubliken ausrufen lassen, und seine Truppen versuchen, möglichst viele Symbole des benachbarten Staates zu zerstören. Die Ukraine in ihrer gegenwärtigen Form soll ausgelöscht werden.
Wie könnten die Verantwortlichen für die Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden?
Der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofes (ICC) hat eine Untersuchung der Kriegsverbrechen in der Ukraine begonnen. Allerdings ist es fraglich, ob es zu einem Verfahren vor dem Strafgerichtshof kommt, der für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen zuständig ist und demnächst auch das Verbrechen der Aggression wird aburteilen können.
Weder die Ukraine noch Russland sind Vertragsstaaten des Römischen Statuts, das die rechtliche Grundlage für den ICC bildet. Zudem wird Russland als Vetomacht verhindern, dass der UN-Sicherheitsrat den Angriffskrieg gegen die Ukraine an den ICC überweist. Und: Russland müsste mutmaßliche Kriegsverbrecher ausliefern, was derzeit unwahrscheinlich ist. Verfahren in Abwesenheit gibt es vor dem ICC nicht.
Das hört sich nicht ermutigend an…
… andererseits kann gemäß des Weltrechtsprinzips jeder Staat die mutmaßlichen Täter vor Gericht stellen und verurteilen lassen. Ein Beispiel ist das Verfahren vor dem Oberlandesgericht Koblenz gegen zwei ehemalige Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes. Das Gericht verurteilte sie wegen ihrer Verbrechen in Syrien. Der Hauptangeklagte erhielt eine lebenslange Haftstrafe.
Könnte also theoretisch ein Gericht in Deutschland oder in Österreich, Luxemburg oder der Schweiz Wladimir Putin aburteilen?
Theoretisch Ja. Nach allgemeinem Völkerrecht schützt auch die Immunität eines Staatsoberhaupts nicht vor Strafverfolgung wegen eines internationalen Verbrechens. Freilich müsste ein deutsches oder anderes Gericht der Person des russischen Präsidenten habhaft werden. Im Falle der russischen Kriegsverbrechen wird es jedoch sehr schwierig sein, die genauen Befehlsketten und die individuelle Verantwortung zu durch Beweise gerichtsfest zu rekonstruieren. Wer gab konkret die Kommandos für die Beschießung der Krankenhäuser und Wohngebiete mit Artillerie oder aus der Luft?
Diese Fragen können Ermittler nur beantworten, wenn Russland kooperiert. Das tut die Regierung natürlich nicht. Die Putin-Streitkräfte begründen die Angriffe mit der Präsenz des ukrainischen Militärs in den Wohngebieten der Zivilisten und werfen den Ukrainern, die ihr Land verteidigen, auf perfide Weise vor, die Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen.
Was nützt das humanitäre Völkerrecht, wenn sich Staaten und ihre Herrscher nicht darum scheren?
Die Genfer Konventionen von 1949 und ihr Zusatzprotokoll I von 1977 regeln, welche Militäroperationen in einem Krieg gestattet und welche verboten sind, wie der Beschuss von Wohngebieten. Im Krieg sind nicht alle Mittel erlaubt, um militärischen Erfolg zu erzielen. Die Kriegsgefangenen müssen menschlich behandelt werden. Das humanitäre Völkerrecht soll verhindern, dass Kriege vollends in die Barbarei abrutschen. Seine Bestimmungen haben viel Unheil von den Menschen abgehalten, aber die Kriegsparteien müssen sich dieser Verbotsnormen bewusst sein und sie respektieren.
Welche rechtlichen Konsequenzen müssen die Russen in der UN befürchten?
Es gibt Forderungen, Russland als ständiges Mitglied mit Vetorecht aus dem UN-Sicherheitsrat auszuschließen oder sein Vetorecht wegen Verwirkung als unbeachtlich zu behandeln. Als ständiges Mitglied im Sicherheitsrat trägt Russland genau wie die anderen vier Vetomächte eine überragende Verantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Diese Garantenstellung hat Russland mit seinem völkerrechtswidrigen Angriff missbraucht.
Aber leider sind alle Gedankenspiele, Russland seinen privilegierten Status zu entziehen sogenannte „Nonstarter“. Ganz einfach deshalb, weil Moskau alle Versuche, die in diese Richtung gehen, ignorieren und sogar blockieren kann. Moskau verhinderte mit seinem Veto bereits eine Verurteilung seines Angriffs durch den Sicherheitsrat. Bislang haben jedoch Vollversammlung und der Menschenrechtsrat der UN, den Putinschen Krieg scharf verurteilt. Russland hat in diesen beiden Institutionen keine Vetomacht.
Vollversammlung und Menschenrechtsrat können aber keine Sanktionen verhängen. Immerhin sammelt eine Kommission des Menschenrechtsrates Beweise für Kriegsverbrechen. Diese Dokumente könnten in späteren Strafverfahren entscheidende Bedeutung gewinnen.
Wie schätzen Sie das Risiko ein, dass der Krieg auf Nato-Länder überschwappt und es zu einer Konfrontation mit Nuklearwaffen kommt?
Diese Gefahr gibt es. Für Putin handelt es sich um eine persönliche Beleidigung, dass die Ukrainer sich tapfer wehren und nicht in wenigen Tagen kapituliert haben. Bei diesem Mann muss man leider das Schlimmste befürchten.
Fragen: Jan Dirk Herbermann
Wie ist die Lage im Kriegsgebiet?
- Kiew: Die ukrainischen Streitkräfte haben nach eigenen Angaben an mehreren Fronten russische Angriffe abgewehrt. Nördlich von Kiew sei es russischen Kräften nicht gelungen, die Verteidigungsstellungen zu durchbrechen. Auch die westlich gelegene Stadt Makariw hätten die Angreifer nicht einnehmen können.
- Ostukraine: Dort seien auch Vorstöße zurückgeschlagen worden, etwa bei Lyssytschansk. Der Feind habe sich zurückgezogen. Hingegen versuchten die Angreifer, sich in Rubischne im Donbass festzusetzen.
- Mariupol: Die eingeschlossene Hafenstadt werde beständig mit Artillerie und Kampfflugzeugen angegriffen. Laut der Behörden haben sich Menschen in etwa 2000 Autos in Sicherheit gebracht in Richtung der zentralukrainischen Großstadt Saporischschja.
- Kinder: Das UN-Kinderhilfswerk Unicef meldet, dass das Krankenhaus in Lwiw nahe der polnischen Grenze überlastet ist wegen verletzter Kinder. Ärzte hätten ein Aufklebersystem einrichten müssen, um die Behandlung der Kinder zu koordinieren, berichtete ein Sprecher. Ein grüner Sticker heißt: verletzt, aber ohne dringenden Bedarf, gelb heißt: muss behandelt werden, und rot heißt: um dieses Kind muss sich sofort gekümmert werden. Es gebe auch schwarze Sticker: Das Kind lebe noch, aber es könne nicht gerettet werden. (dpa)