Herr Ischinger, seit Beginn des Ukraine-Kriegs droht man in Moskau mit Drittem Weltkrieg, Atomschlägen und so weiter. Hat diese Angstmache inzwischen gefruchtet? Wie real ist die Gefahr?

Der Westen hat keinen Grund, in Schockstarre oder Panik zu verfallen. Wir dürfen uns immer wieder daran erinnern, dass die kollektive Wirtschaftskraft des Westens ungefähr das 25-Fache dessen ausmacht, was sie Russische Föderation an Wirtschaftsleistung auf die Matte bringt. Wenn der Westen es nur ernst meinen würde, hätte die Russische Föderation nicht den Hauch einer Chance, ein Nachbarland wie die Ukraine zu unterjochen, wenn dieses Nachbarland vom kollektiven Westen so massiv unterstützt wird wie das notwendig erscheint.

Bei uns ist man zunehmend über erhöhte Kriegsgefahr besorgt. Zu Recht?

Im Westen, insbesondere in Amerika, ist eine nachlassende Neigung zu beobachten, die Ukraine weiter massiv finanziell und militärisch zu unterstützen. Um die nachlassende Unterstützungsbereitschaft auszubalancieren, wird über die erhöhte Kriegsgefahr diskutiert. Ich will diese Kriegsgefahr nicht bagatellisieren – ganz im Gegenteil: Ich bin auch der Meinung, dass wir jetzt zu Beginn des Jahres 2024 ein Zusammenwirken von so vielen schwerwiegenden und zum Teil außerordentlich gefährlichen Krisen erleben wie schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr.

Aber nochmal: Wenn der Westen darauf mit den Möglichkeiten reagiert, die er hat, brauchen wir nicht zu fürchten, dass Russland uns angreift. Aber wir müssen uns den Dingen stellen.

Wolfgang Ischinger, Präsident des Stiftungsrates der Stiftung Münchner Sicherheitskonferenz. Jahrelang leitete er die Konferenz.
Wolfgang Ischinger, Präsident des Stiftungsrates der Stiftung Münchner Sicherheitskonferenz. Jahrelang leitete er die Konferenz. | Bild: Lennart Preiss, dpa

Man hat den Eindruck, dass der Ausruf der Zeitenwende tatsächlich nicht allzu viel bewirkt hat. Ist das auch Ihr Eindruck?

Für Teile der deutschen Öffentlichkeit kann ich sagen, dass die Dimension der Zeitenwende, welche der deutsche Bundeskanzler vor zwei Jahren ausgerufen hat, von der Öffentlichkeit nicht voll erfasst oder verstanden worden ist. Wir erleben einen Epochenbruch. Vielleicht auf Jahrzehnte hinaus werden wir mit einer gefährlichen Bedrohungslage aus Richtung Russland zu rechnen haben.

In absehbarer Zeit werden wir nicht zur gewohnten Normalität der vergangenen Jahrzehnte zurückkehren können. Zeitenwende muss ernst genommen werden. Zeitenwende bedeutet, dass andere Regeln und Prioritäten gelten, nicht nur für die Verteidigungspolitik, sondern auch für die Art und Weise, in der wir mit Freunden und Gegnern umgehen.

Hat die Zeitenwende in der deutschen Verteidigung spürbare Veränderungen bewirkt?

Bundeskanzler Scholz verdient große Anerkennung dafür, dass er vor zwei Jahren diese Zeitenwende ausgerufen hat. An der Umsetzung und bei der Wahrnehmung der Dimension dieser Zeitenwende hapert es. Ich fände es angemessen, fast schon notwendig, dass der Bundeskanzler jedes Jahr zum selben Zeitpunkt in Sachen Zeitenwende Bilanz zieht und erläutert, was erreicht wurde und was nicht. Zum Beispiel hat die Europäische Union für die Munitionslieferungen an die Ukraine vollmundige Versprechen abgegeben, die sie bisher noch nicht einmal zur Hälfte halten konnte.

Was ist mit dem Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsleistungen auszugeben?

Diese berühmten zwei Prozent stehen ja nicht deshalb auf dem Programm, weil die USA dies vor nunmehr zehn Jahren auf einem Nato-Gipfel gefordert haben, sondern weil es um unsere existenzielle Sicherheitsvorsorge geht. Wir sollten das im ureigensten Eigeninteresse tun und nicht, um ein Versprechen einzulösen, das wir mal den USA gegeben haben. Da geistert eine Fehlwahrnehmung in der Öffentlichkeit herum, welche die Bereitschaft, die notwendigen Konsequenzen aus der Zeitenwende zu ziehen, leider unterminiert.

Ist 2024 ein Schicksalsjahr für die Welt?

In der Tat stehen wir zu Beginn des Jahres 2024 an einem Schlüsselmoment. Es gehört nicht viel prophetische Gabe dazu, um zu sagen: Was in diesem Jahr passiert oder nicht passiert, wird langfristige, ja historische Auswirkungen auf die europäische Sicherheitslage, auf das Selbstbewusstsein und die Selbstbehauptungskräfte der EU und auf den Umgang mit dem Aggressor Russland haben.

Beide nicht anwesend in München, aber in den Köpfen sehr präsent: Russlands Präsident Wladimir Putin (links) und der frühere ...
Beide nicht anwesend in München, aber in den Köpfen sehr präsent: Russlands Präsident Wladimir Putin (links) und der frühere US-Präsident Donald Trump unterhalten sich beim G20-Gipfel 2017. | Bild: Evan Vucci, dpa

Im November finden US-Präsidentenwahlen mit einem möglichen Gewinner Donald Trump statt. Sie haben angeregt, die Europäer sollten sich schleunigst mit den künftigen Mitgliedern einer Trump-Administration zusammensetzen. Rechnen Sie mit seiner Wiederwahl?

Damit rechne ich keineswegs. Diese Frage ist bis zum Wahltag offen. Bei amerikanischen Wahlen haben wir schon Überraschungen erlebt, und man wird auch in diesem Jahr davor nicht gefeit sein. Gute sicherheitspolitische Vorsorge erfordert es zwingend, dass wir uns nicht in dieselbe Lage bringen lassen, in der sich der Westen kollektiv befand, als Trump vor inzwischen fast acht Jahren gewählt wurde. Wir hatten so gut wie keine Kontakte zu ihm persönlich oder seinem Beraterstab. Europäische Außenpolitiker mussten quasi bei null anfangen, um solche Kontakte zu etablieren. Das ist schlechte Vorbereitungspolitik.

Es spricht überhaupt nichts dagegen, dass man mit jedem republikanischen Senator und Abgeordneten, dessen man habhaft wird, das intensive Gespräch und mit den möglichen Beratern eines Präsidenten Trump den möglichst engen Schulterschluss sucht. Trump hin oder her – es gibt unglaublich viele transatlantische Gemeinsamkeiten, die auch von einer Trump-Administration nicht ignoriert werden können. Auf diese Gemeinsamkeiten gilt es aufzubauen, um eine transatlantische Bauchlandung im Falle eines Trump-Wahlsiegs zu vermeiden.

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Es gibt viele Horrorszenarien für den Fall eines Trump-Wahlsiegs, zum Beispiel die Furcht vor einem Zerfall der Nato. Andererseits heißt es, es wird nichts so heiß gegessen wie es gekocht wird. Wie sehen Sie das?

Ich mag mir nicht die Vorstellung zu eigen machen, dass es zu einem Zerfall oder Zerbrechen der Nato kommt. Es reicht aber schon, wenn der amerikanische Präsident zwei abfällige Bemerkungen über die Haltung zur Nato macht. Bei solchen Bemerkungen knallen in Moskau die Champagnerkorken, weil es eine öffentliche und nachhaltige Schwächung, ja Demütigung des westlichen Zusammenhalts und eine Stärkung der russischen Seite wäre.

Anders als 2016/2017 geht es um einen wahrhaftigen Krieg mit der Nuklearmacht Russland mitten in Europa. Nach dem Afghanistan-Desaster vor drei Jahren geht es nun auch um die globale politische Glaubwürdigkeit Amerikas und keineswegs nur um einen Konflikt weit weg von Europa, um den Amerika sich nicht kümmern muss. Ich hoffe und erwarte, dass man sich nicht nur im Beraterstab eines Joe Biden, sondern auch eines Donald Trump des Ernstes der Lage bewusst ist, die eine völlig andere als vor acht Jahren ist.

Zieht Putin den Krieg in der Ukraine in die Länge, weil er auf eine Wiederwahl Trumps wartet? Trump hat ja behauptet, er könne den Krieg in einem Tag beenden.

Wir haben Grund zur Annahme, dass Putin eine wie auch immer geartete Verhandlungslösung oder eine Kompromissvereinbarung in Sachen Ukraine sicherlich nicht eingehen wird, bevor er nicht den Ausgang des US-Wahlkampfs kennt. Er geht zu Recht davon aus, dass vom Chef im Weißen Haus doch sehr viel abhängt, was die Behandlung solcher Krisen angeht. Es gibt aber auch noch andere Gründe.

Die Fortsetzung dieses Kriegs selbst bei enormen Opfern und Kosten auf der russischen Seite hat für Putin eher positive politische Folgen. Im Zuge eines Kompromisses müsste er zugeben, dass Russland seine ursprünglichen Kriegsziele – die Unterwerfung der Ukraine und die Entfernung der Regierung Selenskyj – nicht erreicht hat und dies auch nicht in absehbarer Zeit zu erwarten ist. Die Fortsetzung der militärischen Auseinandersetzung ist ein Vehikel zur Verschleierung der eigentlich eingetretenen russischen Niederlage.

Das Hotel Bayerischer Hof wird zur Konferenz Absperrgittern abgeschirmt.
Das Hotel Bayerischer Hof wird zur Konferenz Absperrgittern abgeschirmt. | Bild: Sven Hoppe, dpa

Der Krieg wird also noch lange andauern?

Es ist zu befürchten, dass der Krieg eher länger als kürzer dauern wird. Darauf muss sich der Westen einrichten. In Moskau glaubt man sicherlich, den längeren Atem und die höhere Schmerzfreiheit auch auf Seiten der Bevölkerung zu haben. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass wir alles tun, damit man in Moskau versteht, dass der Westen bei seinen Unterstützungsleistungen für die Ukraine nicht nachlassen wird, und dass es keine Chance gibt, dass Russland seine ursprünglichen Kriegsziele verwirklichen kann.

Erst wenn diese Erkenntnis endgültig im Kopf von Wladimir Putin angekommen ist, können wir mit einer Chance für ernstgemeinte Verhandlungen rechnen. Und eine Verhandlungslösung darf natürlich nicht aussehen wie Minsk 1 oder 2 – die Ukraine braucht knallharte Sicherheitsgarantien, am besten die Nato-Mitgliedschaft.

Die Münchner Sicherheitskonferenz hat sich immer zur Aufgabe gemacht, Brücken zwischen gegnerischen und verfeindeten Lagern zu schlagen. Nun sind die Russen auch diesmal wieder nicht in München. Verfehlt damit die Konferenz damit nicht einen Teil ihres Auftrags?

Es ist zu bedauern, dass sich die russische Seite schon vor dem Beginn des Großangriffs auf die Ukraine nicht mehr getraut hat, nach München zu kommen. 2022 habe ich noch persönlich sämtliche russischen Entscheidungsträger mit persönlichen Schreiben eingeladen. Kurzfristig wurde von russischer Seite mitgeteilt, man komme nicht. Natürlich ist unter den gegenwärtigen Umständen schon gar nicht damit zu rechnen, dass sich Vertreter der russischen Seite der Kritik im Ballsaal des Bayerischen Hofs aussetzen wollen.

Die Russen könnten kommen, wenn sie wollten?

Das ist eine theoretische Möglichkeit. Soweit ich es überblicken kann, hat kein einziger russischer Regierungsvertreter um eine Einladung gebeten. Der russische Botschafter in Berlin hat zu keinem Zeitpunkt der letzten Monate zu erkennen gegeben, dass er dankbar wäre, wenn wir seine Regierung einladen würden. Hier herrscht im Augenblick Funkstille.