Was für ein Gefühl für einen Rennfahrer. Kann süchtig machen, kann einen auch verrückt machen, wenn es einem fehlt. Vergleichsweise lange für jemand, der zu den großen Talenten des deutschen Motorsports zählt, stand der Worndorfer Pascal Wehrlein schon nicht mehr da, wo er dieses Wochenende beginnt: auf Platz eins der Fahrer-Weltmeisterschaft in der Formel E, der führenden Alternativserie im PS-Universum.
Besonders schön für ihn: Als erster Deutscher überhaupt hat er diesen Platz an der Sonne inne, und zum ersten Mal kommt ein einheimischer Pilot als Führender zu den beiden Läufen des E-Prix in Berlin. „Es fühlt sich sehr gut an“, gibt der 28-Jährige zu, „und es gibt einem noch mal extra Motivation, wenn man an die Rennstrecke kommt und weiß, dass man eine Chance hat, vorn mitzufahren.“
Wenn man so möchte, ist damit der „alte“ Wehrlein zurück. Derjenige, der vor zwanzig Jahren als Kart-Kind begonnen hat, 2015 im Deutschen Tourenwagen-Masters den Meistertitel holte und den Sprung in die Formel 1 schaffte. Dort hat er auf die harte Tour lernen müssen, wie schmerzhaft das Wort „Chancenlosigkeit“ sein kann. Damit klarkommen, das zehrt an einem. Er hat vielleicht ein paar Freunde dabei verloren, aber für sich selbst eine Menge gewinnen können.

Wird heute über den „neuen“ Pascal gesprochen, dann ist es nicht nur der guten Ergebnisse in dieser Saison wegen ein anderer Mensch, der sich den Fans präsentiert – als Rennfahrer ist er ruhiger geworden, überlegter. Und das, obwohl er eine Menge unruhige Nächte hat. „Seit meine Tochter Soleya auf der Welt ist, hat sich mein Leben komplett geändert“, sagt er – wohlwissend, dass nach der Logik eines gewissen Enzo Ferrari ein Rennfahrer mit jedem Kind eine halbe Sekunde langsamer werden soll.
Starker Start mit neuem Wagen
Ziemlich cool, gerade das Gegenteil beweisen zu können. Seit 2020 fährt Wehrlein schon für das neu formierte Porsche-Werksensemble in der Formel E, mit der „Gen3“ genannten neuen Rennwagengeneration kommt er besonders gut klar, und konnte in Saudi-Arabien seine ersten beiden Siege mit dem Elektroauto feiern. Sein Dienstwagen ist 475 PS stark, 40 Prozent der Energie für die über eine Dreiviertelstunde gehenden Rennen wird beim Bremsen gewonnen, das Spitzentempo liegt jenseits der 300 km/h, aber das ist auf den Stadtpisten kaum drin.

Das Prinzip der Formel E ist komprimierte Action, mitten in der Stadt. Pascal Wehrlein kommt mit den neuen Rahmenbedingungen gut klar: „Mir hilft, dass ich schon in so vielen verschiedenen Serien unterwegs war, ich kann meinen Fahrstil schnell anpassen.“ In Berlin, das seit dem Serienauftakt 2014 ununterbrochen im Programm ist, ist durch das breite Streckenlayout auf dem ehemaligen Flugplatz wieder eine ganz andere Fahrzeugabstimmung gefragt.
Wehrlein gibt den Optimisten, was die Konkurrenzfähigkeit angeht: „Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir bis zum Saisonende an der Spitze mitfahren können. Wir sind mit dem Porsche 99X Electric so gut wie noch nie in die neue Ära gestartet.“
Wer sich verkalkuliert, bleibt stehen
Der Blick in den Rückspiegel darf nicht fehlen, wenn einer immerhin 39 Formel-1-Rennen bestritten hat (sechs Punkte): „Bei Manor und Sauber ging es immer nur drum, nicht Letzter zu werden. Umso mehr schätze ich, was ich jetzt habe. Ich kann wieder richtig Rennfahrer sein, das erfüllt mich sehr.“ Die volle Konzentration gilt dem Blick nach vorn, und der Zirkel-Aufgabe zwischen den Barrieren, samt der Rechenaufgabe, den Stromverbrauch immer im Blick zu haben: „Generell wird einem in dieser Serie kein Fehler verziehen.“
Wer sich verkalkuliert, bleibt kurz vor Rennende stehen. Keine Gnade, kein Mitleid. Das wäre peinlich, für den Fahrer wie für das Image der Serie. „Mathematik war tatsächlich mein bestes Fach in der Schule“, gesteht Wehrlein, und genießt das, was er „Kopfarbeit“ nennt. Das strategische Fahren hat er intus, schult sich darin auch am Simulator. Wie gut sich das in der Praxis umsetzen lässt, davon künden nach sechs von 16 Formel-E-Läufen derzeit 86 Meisterschafts-Punkte – und ein Youtube-Video namens „Überholwahnsinn“, das seine besten Manöver zusammenfasst.
Ein anspruchsvolles Fahren
Aber das Hauptaugenmerk gilt einer effizienten Fahrweise. Sofort regt sich leiser Protest: „Das heißt natürlich nicht, dass wir nicht Gas geben. Nur am Ende einer Geraden gehen wir kurz vom Gas, brauchen dann aber den nötigen Speed in der Kurve. Es ist ein sehr spezielles Fahren, und vor allem ein ziemlich anspruchsvolles. Der Grat ist schmal.“
Kein Platz für Fehler
Die Fahrzeuge mit den vielen vorgeschriebenen Norm-Teilen und das häufig auch durch Zufall und leicht chaotische Umstände beeinflusste Renngeschehen sorgen dafür, dass die Abstände zwischen den Fahrern gering bleiben: „Prinzipiell ist die Dichte so groß, dass jeder der 22 Fahrer eine Chance hat, aufs Podium zu kommen. Das macht einem im Cockpit natürlich Spaß. Aber gleichzeitig weißt Du auch, dass Du Dir auf keinen Fall ein durchschnittliches Wochenende leisten kannst.“ Seine 24 Zähler Vorsprung auf Jake Dennis in der Gesamtwertung können da schnell dahin sein, aber Pascal Wehrlein begegnet schon dem Gedanken mit viel Ehrgeiz und neuer Lust am Tun. Wer Erster ist, will Erster bleiben.