Frau Balodis, seit März sind Sie als Schiesser-Chefin im Amt – als erste Frau in der 150-jährigen Firmengeschichte. Gleich zu Anfang haben Sie sich mit zweien ihrer Vorgänger getroffen. Was haben Sie da besprochen?
Sonja Balodis: In den Gesprächen mit meinem direkten Vorgänger Andreas Lindemann ging es viel um Fragen des operativen Geschäfts und der Strategie, also hauptsächlich um Zahlen, Daten und Fakten. Sein Wissen und seine Erfahrung waren in diesen Punkten sehr wichtig für meine Orientierung im Unternehmen in den ersten Wochen. Mit Rudolf Bündgen habe ich das Gespräch gesucht, weil er einer derjenigen Menschen ist, die Schiesser wohl am besten kennen und der in seinen rund 20 Jahren als Firmenchef manche Höhen und Tiefen miterlebt hat. Gerade diese historische Perspektive halte ich für extrem wichtig, um zu verstehen, woher die Marke Schiesser kommt und wofür sie steht. Ohne darüber Klarheit zu haben, fällt es schwer, eine Marke und das Geschäft dahinter weiterzuentwickeln. Herr Bündgen hat mir erzählt, dass er einmal das Grab des Firmengründers Jacques Schiesser hier in Radolfzell aufgesucht hat und sich dann die Frage gestellt hat: „Was würde der Gründer in meiner Lage tun“. Das fand ich einen spannenden Ansatz.
Waren Sie auch schon am Gründer-Grab, um das Zwiegespräch zu suchen?
Balodis: Leider noch nicht (lacht), aber die Idee dahinter halte ich für wichtig. Es geht darum, sich bei einem Aufbruch in die Zukunft auf die Tradition zurückzubesinnen. Es hilft jedenfalls ungemein, die Marke Schiesser aufzusaugen und zu verstehen, worin ihre DNA besteht. Als Chefin eines Traditionsunternehmens wie Schiesser muss man die DNA kennen, bevor man überhaupt sinnvolle Entscheidungen treffen kann.
Haben sie sich auch mit den Mitarbeitern getroffen?
Balodis: Ja natürlich. Ich bin durchs Haus gegangen und habe mit so vielen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen wie möglich persönlich gesprochen. Zudem habe ich anhand eines Fragebogens einen strukturierten Austausch mit jedem einzelnen Mitglied des Managements gesucht, gerade in der Anfangszeit eine koordinative Herausforderung. Die Zeit habe ich mir aber gerne genommen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was aus Sicht der Mitarbeiter und Führungskräfte wichtig ist.
Und?
Balodis: Es herrscht Aufbruchstimmung. Außerdem gibt es in der Belegschaft einen unheimlichen Stolz und eine Verbundenheit mit der Marke Schiesser, die ich so nicht kannte. Es gibt hier Beschäftigte, die in dritter Generation für Schiesser arbeiten. Das Qualitätsversprechen, das die Marke Schiesser gibt, ist ganz tief drin bei den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Das ist ein großer Schatz, den ich pflegen will.

Trotz eines Bedeutungsverlusts seit Anfang des Jahrtausends ist Schiesser immer noch eine Marke mit hohem Bekanntheitsgrad. Wie wollen Sie sie zum Strahlen bringen?
Balodis: Schiesser hat Nachholbedarf bei seiner Sichtbarkeit nach außen. Wir haben uns in den vergangenen Jahren sehr darauf konzentriert, die Abläufe perfekt zu organisieren. Darüber hinaus haben wir vielleicht nicht genug Augenmerk darauf gelegt, unsere Botschaften auch nach außen zu tragen. Wir müssen die Marke Schiesser emotional stärker aufladen.
Wie soll das gelingen?
Balodis: Ich finde zum Beispiel, dass unser Radolfzeller Stammsitz mehr Aufmerksamkeit verträgt. Wenn Sie nicht wissen, dass sich in der Schützenstraße Nummer 18 der Schiesser-Stammsitz mit einer 150-jährigen Tradition befindet, fahren Sie mit dem Auto glatt dran vorbei. Das kann man vielleicht als Symbol für das ganze Unternehmen sehen. Wir müssen sichtbarer werden und dafür auch mehr trommeln. Dazu gehören klassische Plakataktionen und Anzeigen-Werbung, aber auch Social Media. Wir machen jetzt zum Beispiel Influencer-Events, um gerade auch die jüngere Zielgruppe an unsere Wäsche heranzuführen. Daraus entstehen spannende Dinge. Auf einem dieser Events war zum Beispiel auch Alena Gerber, eine der deutschen Top-Influencerinnen. Sie hat uns erzählt, dass ihr Großvater und Urgroßvater beide bei Schiesser gearbeitet haben. Wir haben das aufgegriffen und eine kleine Social-Media-Kampagne gestartet, die sehr erfolgreich ist und Schiesser bei jungen Menschen ins Gespräch bringt. Wir wollen nahbar und offener werden, in alle Richtungen.

Was ist die Haupt-Zielgruppe für Schiesser-Wäsche?
Balodis: Rund 80 Prozent unserer Kunden sind zwischen 40 und 60 Jahre alt. Das sind sehr qualitätsbewusste Käufer, denen Funktionalität und Tragekomfort an erster Stelle stehen. Für diese Werte stehen wir weiter. Gleichzeitig wollen wir frischer daherkommen und auch jüngere Menschen für Schiesser begeistern. Dazu bringen wir zum Beispiel neue Farben und Drucke für unsere klassischen Kollektionen an den Start und lassen auch mehr Verspieltheit zu. Bei Damenwäsche wird die Spitze zum Beispiel wieder zurückkehren und den vorherrschenden reinen Look ergänzen.
Schiesser ist eine sehr männliche Marke, zumindest sind 60 Prozent ihrer Artikel Männer-Produkte. Warum eigentlich?
Balodis: Schiesser-Wäsche wird traditionell als solide und funktional wahrgenommen. Das scheint besonders die Herren anzusprechen. Das dreht sich aber seit einiger Zeit. In unseren mehr als hundert eigenen Laden-Geschäften machen wir den Hauptteil des Umsatzes mittlerweile mit Textilien für Damen. Tatsächlich finden sich alle Geschlechter in Schiesser wieder.

Was ist eigentlich das wichtigste Schiesser-Produkt?
Balodis: Schiesser hat etwa zehn Produkte, die einfach seit Jahren Bestseller sind und mit denen das Unternehmen gut drei Viertel seines Umsatzes macht. Dazu gehören beispielsweise unsere Herren-Unterwäsche Multi-Packs, das American T-Shirt im Doppelpack oder auch der Unique-Micro-BH bei den Frauen. Wir entwickeln diese Artikel im Moment stetig weiter. Dazu gehört etwa die Einführung neuer Trendfarben je nach Saison, um etwas mehr Frische ins Sortiment zu bringen.
Reicht es, das Sortiment mit neuen Farben aufzupeppen?
Balodis: Wir wollen deutlich innovativer werden und jede Saison neue Produkte mit echtem Mehrwert lancieren. Ich sage mal: Zwei neue Produktlinien pro Jahr für Männer und für Frauen sind dabei unser Ziel.
Was bedeutet Innovation bei Wäsche überhaupt?
Balodis: Ein gutes Beispiel ist gleitende Cups, die sich flexibel an Brustumfänge anpassen und mit denen wir gerade großen Erfolg haben. Außerdem setzen wir bei BHs wieder auf reine Baumwolle zusätzlich zu unseren bisherigen Mischfaser-Produkten. Dem immer stärker werdenden Nachhaltigkeitsgedanken entspricht zum Beispiel, dass wir seit neuestem auch Wäsche anbieten, die aus Maisfasern hergestellt wurde.

Trends wie Fast- und Ultra-Fast-Fashion haben den ganzen Mode-Sektor in Verruf gebracht. Wie stehen Sie zu diesen Trends?
Balodis: Ich halte gar nichts von diesen Trends und werde Schiesser in maximalem Abstand zum Fast- und Ultra-Fast-Fashion Trend positionieren. Das widerspricht dem Kern unserer Marke. Bei Schiesser lassen wir uns bewusst sehr viel Zeit damit, neue Produkte herauszubringen. Von der ersten Idee bis das Produkt im Handel ist, kann mehr als ein Jahr vergehen. Die Zeit nutzen wir, um das Produkt zu durchdenken und ausgiebig am Standort Radolfzell zu testen, etwa mit Waschtests und Trageproben. Ich bin fest davon überzeugt, dass das diese Qualitätssicherung im Haus eine unserer Stärken ist.
Die Deutschen sind gerade nicht in Kauflaune. Wie steht Schiesser im Jahr seines 150-jährigen Jubiläums da?
Balodis: Wir sind im Geschäftsjahr 2024 gewachsen und haben über 200 Millionen Euro Umsatz erwirtschaftet. Das ist ein solides Plus gegenüber dem Vorjahr. Im ersten Halbjahr 2025 hat sich diese Entwicklung fortgesetzt. Wir haben eine deutlich höhere Kundenfrequenz in unseren Laden-Geschäften als vor einem Jahr. Das stimmt uns positiv und untermauert unser Ziel, 25 neue Filialen in Europa bis 2027 zu eröffnen.
Schiesser setzt noch auf eigene Filialen und den stationären Handel?
Balodis: Schiesser ist bei allen seinen Vertriebskanälen sehr ausgewogen aufgestellt. Rund die Hälfte unserer Produkte vertreiben wir über unsere 110 eigenen Läden oder über unsere Webseite direkt an die Kunden. Der Rest wird über den stationären Einzelhandel abgesetzt.
Der Umsatz wächst also, aber wie sieht es beim Gewinn aus. Er ist die Grundlage der Expansion…
Balodis: Über konkrete Zahlen schweigen wir lieber, aber 2024 war auch beim Gewinn erfreulich. 2025 geht in eine ähnliche Richtung.
Wolfgang Grupp, der langjährige Chef des T-Shirt-Herstellers Trigema, sagte immer, er arbeite „ungern unter Renditen von zehn Prozent“. Verhält es sich bei Schiesser ähnlich?
Balodis: Die zehn Prozent Umsatzrendite sind auch unser Ziel bei Schiesser, auch für das laufende Jahr.

Seit mehr als zehn Jahren gehört Schiesser zum israelischen Textilkonzern Delta Galil, der auch an der Börse notiert ist. Wie läuft die Zusammenarbeit?
Balodis: Ich sehe das als starke und spannende Kombination. Durch Delta Galil, das auch in den USA stark aufgestellt ist, hat Schiesser Zugang zu Ressourcen, die einem Mittelständler unserer Größe ohne Partner verwehrt wären. Wir können in Punkten wie Innovation, aber auch beim Marketing und durch den weltweiten Produktionsverbund profitieren.
Wie wichtig ist Schiesser für Delta Galil?
Balodis: Ich würde sagen, sehr wichtig. Bei Delta Galil weiß man um die Stärken der Marke Schiesser und sieht das Unternehmen als Zugpferd unter den konzerneigenen Marken. Delta-Chef Isaac Dabah war seit März schon drei Mal am Schiesser-Stammsitz in Radolfzell, was zeigt, dass ihm das Unternehmen sehr wichtig ist.
Dabah gilt als zugänglich, aber auch als fordernd. Welche Forderungen stellt er an seine in Deutschland ansässige Firmentochter?
Balodis: Ziel von Delta Galil ist ein zweistelliges Umsatzwachstum pro Jahr über alle Marken hinweg. Das gilt auch für Schiesser. Aber das gilt nicht um jeden Preis und ab sofort. Im Moment habe ich den Eindruck, dass Delta Galil, Schiesser bei den Zielen für Umsatz und Rendite die nötige Zeit lässt. Innovation ist beispielsweise auch ein Thema, dass Isaac Dabah am Herzen liegt und wofür auch Geld in die Hand genommen wird.

Auch Produktoffensiven und Marketing kosten. Genießen Sie da auch Freiheiten?
Balodis: Wir haben da den nötigen Gestaltungsspielraum. Wenn es unterschiedliche Meinungen gibt, werden Argumente ausgetauscht. So haben wir bisher immer Konsens erzielt.
Israel sieht sich wegen des Gaza-Kriegs Vorwürfen massiver Menschenrechtsverletzungen gegenüber. Ist das vor dem Hintergrund einer israelischen Konzernmutter Thema bei Schiesser?
Balodis: Natürlich lässt die Lage in Nah-Ost keinen unberührt, auch bei Schiesser ist das so. Auf das tägliche Geschäft hat das aber keine Auswirkungen.
Radolfzell ist Stammsitz von Schiesser. Wie sind die Perspektiven für den Standort, auch mit Blick auf die Mitarbeiter?
Balodis: Aktuell sind die Jobs am Standort sicher. Einschnitte sind nicht geplant. Warum auch, unser Geschäft läuft, wir wachsen. Im Gegenteil, gerade im Ausland ist ein Mitarbeiteraufbau geplant, etwa durch die Eröffnung von neuen Laden-Geschäften. In Radolfzell liegt die Mitarbeiterzahl bei knapp 400 Beschäftigten, wir heißen neue Talente aber jederzeit willkommen.

Ihrem Vorgänger Andreas Lindemann wurde ein zeitweise angespanntes Verhältnis zum Betriebsrat, aber auch zur IG Metall, nachgesagt. Wie stehen sie zur betrieblichen Mitbestimmung?
Balodis: Ich habe einen guten Kontakt zu unserem Betriebsrat, mit dessen Mitgliedern ich in ständigem Austausch bin. Ich bin für ein Verhältnis auf Augenhöhe und habe ein Interesse an einem guten Dialog.
In Tschechien hat Schiesser sein einziges eigenes Produktionswerk. Wie ist die Lage dort?
Balodis: Über 50 Prozent unserer Produktion findet in unserem tschechischen Werk statt. Der Standort ist wichtig. Gerade auch, um flexibel und schnell, kleinere Mengen liefern zu können. Das geht aus Asien nur beschränkt. Die Mitarbeiterzahl von 500 ist dort seit Jahren konstant.