Eine kleine Pille, ein Glas Wasser, einmal schlucken und bald sind die Schmerzen weg. Was so einfach klingt, hat den USA die sogenannte Opioid-Epidemie gebracht, die seit 20 Jahren durch das Land rollt. Durch Tabletten, die Ähnlichkeit mit Opium haben, wurden massenweise Menschen süchtig. Viele stiegen später auf andere Drogen um, auch auf Heroin. 2018 starben nach vorläufigen Zahlen der US-Gesundheitsbehörde CDC mehr als 68 000 Menschen an einer Überdosis Drogen.

In mehr als zwei Dritteln der Fälle waren Opioide der Auslöser – jene starken Medikamente, die wie Opium wirken, aber synthetisch hergestellt sind. Angesichts dieser Epidemie, die in den USA ganze Landstriche zeichnet, stellt sich die Frage: Wie sieht die Situation in Deutschland aus?
Anstieg um das Zwei- bis Dreifache
Auch hierzulande werden immer mehr sogenannte Opioid-Analgetika verschrieben: „Seit 2000 sind die Verordnungszahlen um das Zwei- bis Dreifache angestiegen“, sagt Professor Gerd Glaeske, Pharma-Experte an der Universität Bremen. 2018 waren es 8,8 Millionen Packungen, die Ärzte den Patienten verordnet haben. Das geht aus Zahlen des Instituts für Medizinische Statistik hervor. Die Industrie setzte damit im vergangenen Jahr 795,8 Millionen Euro um.

Das klingt viel, aber wenn man auf den Gesamtmarkt blickt, ist es ein sehr kleiner Teil: Von den 140 Millionen Packungen Schmerzmittel, die in Deutschland pro Jahr verkauft werden, gehen 105 Millionen ohne Rezept weg. Nur 35 Millionen werden vom Arzt verschrieben – also knapp ein Drittel. Und von denen fallen eben jene 8,8 Millionen in die Gruppe der Opioide, denen Experten „ein hohes Suchtpotenzial“ zuschreiben.
- Werden diese Schmerzmittel zu oft verschrieben? „Es ist es Segen, dass es diese Medikamente gibt. Aber sie haben auch diesen Fluch in sich“, sagt Darius Chahmoradi Tabatabai.

Der Psychiater und Psychotherapeut leitet die Hartmut-Spittler-Fachklinik für Entwöhnung in Berlin. In allen Fällen, wo man Schmerzen auch anders beeinflussen könne, rate er ab, das Opioid-Risiko einzugehen. „Denn dann haben die Menschen oft ein zweites Problem.“
Professor Gerd Glaeske kann „anders als in den USA in Deutschland keinen dramatischen Anstieg erkennen“. Deutschland habe vielmehr Nachholbedarf gehabt, sagt er: „Die Versorgung der Menschen mit Krebserkrankungen oder anderen schweren Leiden – gerade am Ende des Lebens – war schlecht.“
Das Schaffen von Sterbe-Hospizen habe auch bei der Schmerztherapie vieles verbessert. Aber vor allem die neuen Schmerzpflaster bekämen „zu viele Menschen aus zu wenig guten Gründen“, sagt der Pharmakologe.
- Wann sind starke Medikamente sinnvoll? „Es ist gut, dass wir so viele verschiedene Schmerzmedikamente zur Verfügung haben“, sagt die Schmerztherapeutin Jutta von Gierke. „Aber wir müssen sorgfältig damit umgehen und die Verordnung immer wieder überprüfen und hinterfragen.“

Ins Schmerzzentrum Rhein-Main, in dem die Anästhesiologin arbeitet, kommen Patienten mit chronischem Schmerz, die oft eine lange Leidensgeschichte mitbringen. Morphine, die ebenfalls zur Gruppe der Opioide zählen, seien „für viele Menschen ein Segen“.
Die Idee, die das Schmerzzentrum verfolgt, kann man so zusammenfassen: Medikamente schalten den Schmerz aus, damit der Mensch sich mehr bewegen kann. Durch die Aktivität geht der Schmerz zurück. Entspannungstechniken, Psychotherapie, Physiotherapie, Naturheilkunde ergänzen das Programm. Am Ende kann die Dosis reduziert werden.
Vorsicht bei hoher Dosis
- Sind alle Schmerzmittel gefährlich? Schmerzmittel ist nicht gleich Schmerzmittel. Die eine große Gruppe sind Medikamente, die im Körper wirken, aber die Schmerzverarbeitung im Kopf nicht verändern. Viele davon sind frei verkäuflich. „Das wird leider immer noch unterschätzt“, sagt Fachmann Tabatabai: „Sie machen nicht abhängig, sind aber doch ziemlich gefährlich, wenn man sie regelmäßig in hoher Dosis einnimmt.“ Sie wirken nicht im Gehirn, aber schädigen zum Beispiel die Nieren.

Für besonders riskant hält er Medikamente, die auf das zentrale Nervensystem wirken. Benzodiazepine zum Beispiel beruhigen, lockern die Muskeln, beseitigen die Angst. Fast alle Patienten, die zur Medikamenten-Entwöhnung in die Hartmut-Spittler-Klinik kommen, sind von „Benzos“ abhängig.
- Welche schweren Probleme können auftreten? „Bei jüngeren Menschen, die körperlich gesund sind, kann es sein, dass das Problem lange Zeit unbemerkt bleibt“, sagt der Psychiater Tabatabai. Ein junger Mensch, der ansonsten gesund ist, aber etwa nach einem Unfall Schmerzen hat, kann mit Opioiden lange Zeit gut zurechtkommen. Dann aber kommt ein Punkt, an dem es ernst wird. Zum Beispiel mit dem Alter: Der Stoffwechsel verändert sich, die Substanzen wirken anders, oft stärker. Oder eine andere Krankheit kommt dazu, der Patient nimmt weitere Medikamente – die Wechselwirkungen könnten fatal sein, weil es zu einem „unheilvollen Cocktail“ kommen könnte.
- Haben Opioide ein hohes Suchtpotenzial? Für die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen sind Opiate und Opioide „nicht nur die wirkungsvollsten schmerzstillenden Substanzen, ihnen wird auch gleichzeitig das – noch vor Alkohol – stärkste suchterzeugende Potenzial zugeschrieben“. Opiate sind Mittel, deren Wirkstoffe aus natürlichem Opium (Schlafmohn) gewonnen werden; Opioide wirken ähnlich, werden aber synthetisch hergestellt.

Der Punkt ist: Wenn das Schmerzmittel zur Sucht geworden ist, geht es um etwas anderes als um den Schmerz: Die Einnahme zielt dann „auf die euphorisierende Wirkung der Substanzen“. Denn auch das gehört den Nebenwirkungen: „Es werden nicht nur körperliche, sondern auch seelische Schmerzen betäubt. Angst, Spannung und Unlust werden beseitigt und stattdessen stellt sich ein Gefühl von Euphorie, Zufriedenheit, Angstfreiheit sowie ein lustbetontes ekstatisches Erleben ein“, erläutern die Experten der Hauptstelle.
- Für wen ist das Risiko besonders hoch? Gefährdet sind die Arbeitstiere. „Menschen mit sehr hoher Leistungsorientierung“, nennt sie Darius Chahmoradi Tabatabai. Menschen, oft männlich, oft älter, „die ihre Reserven aufgebraucht haben“. Schmerz ist ein Warnsignal – das Signal sagt: Mach mal weniger! Manche Menschen jedoch, die nicht auf ihren Körper hören, überfahren dieses Signal – immer und immer wieder. Die Folge: Sie reagieren zunehmend intensiver auf Schmerz, bekämpfen ihn mit Medikamenten, um durchhalten zu können – am Ende steht oft die Abhängigkeit.
- Wie oft werden Patienten abhängig? „Ich schätze, dass das weniger als ein Prozent der Menschen betrifft, die Opioide verschrieben bekommen“, sagt Professor Glaeske mit Blick auf Deutschland. Das wären etwa 30 000 Patienten. Eine harte Quelle gibt es für diese Zahl nicht: Es sind hochgerechnete Werte von Schmerztherapeuten, die sowohl mit der Therapie wie mit Entzug zu tun haben.
- Bekommen wir vielleicht auch amerikanische Verhältnisse? Auf keinen Fall. Die Situation in Deutschland ist mit den USA nicht vergleichbar – das betonen alle Experten. Pharmafirmen dürfen dort für verschreibungspflichtige Medikamente werben. In Deutschland ist das verboten. Ärzte verschreiben dort viel freizügiger – vielfach auf den drängenden Wunsch der Patienten. Außerdem ist fast alles auf dem Schwarzmarkt erhältlich. Zudem findet man bei aufkommendem Suchtverhalten in Deutschland schneller Hilfe als in den USA.
Lexikon gängiger Schmerzmittel
Sie sind Teil so gut wie jeder Hausapotheke und sollen schnell wirken, wenn etwas weh tut: Schmerzmittel. Die gängigsten sind frei verkäuflich. Droht Suchtgefahr, müssen die Wirkstoffe vom Arzt verordnet werden. Eine Übersicht:
- Analgetika: Aus dem Griechischen hergeleiteter medizinischer Begriff für Schmerzmittel.
- Benzodiazepine: Rezeptpflichtige Medikamente, die zur kurzfristigen Behandlung von Spannungs-, Erregungs- und Angstzuständen verordnet werden. Sie stillen Schmerz, lockern Muskeln und beseitigen Ängste. Sie können ein rauschartiges Gefühl hervorrufen und gelten bei längerer Einnahme als suchtgefährdend.
- Ibuprofen, Diclofenac und Acetylsalicylsäure (ASS): Diese rezeptfrei erhältlichen Substanzen wirken durch die Blockade von Botenstoffen schmerzlindernd, haben aber auch fiebersenkende und entzündungshemmende Effekte. Ursprünglich dienten die Substanzen zur Behandlung von Arthritis-Patienten. Zu Medikamenten mit ASS gehört auch das bekannte Aspirin des Herstellers Bayer.
- Opiate: Schmerzmittel, das aus natürlichem Opium (Schlafmohn) gewonnen wird. Der Hauptwirkstoff Morphin betäubt nicht nur körperliche, sondern auch seelische Schmerzen und sorgt für Euphorie und ekstatische Zustände. Wegen ihrer Suchtgefahr fallen die Medikamente unter das Betäubungsmittelgesetz und müssen mit speziellen Rezepten verschrieben werden.
- Opioide: Synthetisch hergestellte, stark wirkende Schmerz- und Betäubungsmittel. Ihre Wirkweise ähnelt der von Morphin, sie haben ebenfalls ein hohes Suchtpotenzial und werden nur auf Rezept abgegeben.
- Paracetamol: Gut verträgliches Analgetikum, das seine schmerzlindernde und fiebersenkende Wirkung wohl hauptsächlich im zentralen Nervensystem entfaltet. Wie die rezeptfreie Substanz genau wirkt, ist unvollständig geklärt. Sie hat keinen entzündungshemmenden Effekt.