Angela Stoll

Irgendwo im Ohr muss ein böses kleines Männchen sitzen. „Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle“, schmettert es ungefragt drauf los. Und ein Zwergenchor brüllt hinterher: „Hölle Hölle Hölle Hölle!“ Wieder geht es los. „Das ist Wahnsinn, du spielst mit meinen Gefühlen.“ Hölle, Wahnsinn, Wahnsinn, Hölle. Alles dreht sich im Kreis, immer wieder. Es ist zum Verrücktwerden, einfach Hölle! Warum nur dieses Lied?

Manche Songs scheinen wie gemacht dazu, sich als Ohrwurm tief in die Gehörgänge zu graben. Dazu gehört unbestritten Wolfgang Petrys Hit mit dem passenden Titel „Wahnsinn“. Wer den Schlager zwei-, dreimal gehört hat, der wird ihn so schnell nicht mehr los.

Etwa 90 Prozent aller Menschen, sagt der Musikwissenschaftler Jan Hemming von der Universität Kassel, haben gelegentlich einen Ohrwurm: Ihnen gehen kurze Melodiefetzen für eine Weile nicht aus dem Kopf. Dabei kann sich so ziemlich alles, was unser Gehör aufnimmt, zum Wurm entwickeln: Vielleicht ist es Beethovens „Für Elise“, das jemand im Nachbarhaus holprig klimpert, vielleicht ein nervtötender Werbeslogan aus dem Radio.

Große Studien zum Thema

Seit vielen Jahren versuchen Forscher, dem Geheimnis der Ohrwurm-Formel auf die Spur zu kommen. Besonderen Ehrgeiz entwickelte ein Team um die britische Musikwissenschaftlerin Kelly Jakubowski, das in einer groß angelegten Studie 3 000 Personen zu ihren Ohrwürmern befragte. „Lieder, die im Gedächtnis hängen bleiben, haben offenbar ein schnelles Tempo, eine gängige Melodie sowie ungewöhnliche Intervalle oder Wiederholungen – so, wie wir sie am Anfang von ‚Smoke on the Water’ oder im Refrain von ‚Bad Romance’ hören können“, erklärt Jakubowski. Aus anderen Studien wusste sie bereits: Lieder, die gerade in den Charts sind und oft im Radio laufen, entwickeln sich häufiger zu Ohrwürmern.

Gleich drei Hits kann Queen in den Top 10 der größten Ohrwürmer vorweisen.
Gleich drei Hits kann Queen in den Top 10 der größten Ohrwürmer vorweisen. | Bild: Jean-Claude Coutausse, afp

Dadurch ist der Mechanismus magischer Melodien aber noch lange nicht entschlüsselt. Leichter tut sich die Wissenschaft damit, das Phänomen zu beschreiben. Ohrwürmer sind nämlich „unerwünschtes musikalisches Gedächtnis“, sagt Eckart Altenmüller, Leiter des Instituts für Musikphysiologie und Musiker-Medizin an der Musikhochschule Hannover. Versatzstücke von Melodien poppen plötzlich aus dem Gedächtnis auf. „Auslöser kann eine Assoziation sein, vielleicht ein Geruch oder ein Klang“, erklärt der Neurologe Altenmüller.

Vielleicht hat jemand also sofort „Last Christmas“ im Ohr, sobald er Glühweinduft wittert. „Das Hirnareal, das Melodien speichert, aktiviert dann auch den Bereich, der für das Singen zuständig ist. Das führt dazu, dass man innerlich mitsingt und sich selbst zuhört. Das löst wieder den Impuls aus mitzusingen. Man singt sich also ständig etwas vor und gerät dadurch in eine Endlosschleife.“

Besonders anfällig für Ohrwürmer sind wir dann, wenn das Gehirn im Leerlauf ist – etwa beim Joggen, Zwiebelschneiden oder Staubsaugen. Dann nämlich setzt das sogenannte „Mind-wandering“ ein. Wenn man die Gedanken schweifen lässt, werden musikalische Inhalte häufiger abgerufen. „Das Gleiche passiert auch dann, wenn wir überfordert sind“, sagt der Musikwissenschaftler Hemming. Um Ohrwürmer zu vertreiben, empfiehlt Hemming, sich auf etwas anderes zu konzentrieren: zum Beispiel auf die Steuererklärung.

"Happy" ist Pharell Williams' großer Hit – und einer mit Ohrwurmpotenzial noch dazu.
"Happy" ist Pharell Williams' großer Hit – und einer mit Ohrwurmpotenzial noch dazu. | Bild: Robyn Beck, afp

Kaugummikauen hilft

Es gibt angenehmere Methoden, um die Endlosschleife zu unterbrechen. Man kann auch versuchen, eine Melodie mit einer anderen zu vertreiben – am besten mit einem Lied, das einem eher gleichgültig ist, rät Eckart Altenmüller: vielleicht mit emotional unbefrachteten Kinderliedern oder der Nationalhymne. Manchmal verstummen die inneren Quälgeister aber auch, wenn man ein Stück komplett hört: Unvollständiges bleibt nämlich besonders lange im Gedächtnis. „Ansonsten hilft auch Kaugummikauen“, meint Altenmüller. Dadurch wird nämlich die Muskulatur, die für das Singen zuständig ist, beschäftigt und somit die Endlosschleife gestoppt: das böse kleine Männchen im Ohr wird sozusagen geknebelt.

Allerdings tut man den singenden Zwergen oft Unrecht. Bei Umfragen hat sich ergeben, dass ihr Treiben weit weniger Anstoß erregt als angenommen. „Zwei Drittel der Ohrwürmer hat man ohnehin von Musik, die man mag“, sagt Hemming. Und selbst wenn sich Fetzen von wenig geschätzter Musik im Kopf verselbstständigen, wird das meist als positiv eingestuft. Ohrwürmer sind also viel öfter bereichernd als nervtötend. Woher kommt dann ihr schlechter Ruf? „Man erinnert sich eben vor allem an das Negative“, meint der Wissenschaftler. „So sind die Menschen.“

Psychoanalytiker glauben, dass die kleinen Männchen im Ohr im Auftrag des Unbewussten arbeiten. Die Endlos-Melodien stehen demnach für verdrängte Wünsche. Werden diese erfüllt, herrscht Ruhe im Kopf. Der Heidelberger Psychiater Cornelius Eckert beschrieb in einem wissenschaftlichen Aufsatz vor Jahren einen typischen Fall: Ein 28-jähriger Mann fuhr erstmals ohne seine Eltern in den Urlaub. Dort wurde er so stark von einem Ohrwurm gequält, dass er sich genötigt sah, zurückzufahren. Und zwar hatte er ständig den Schlager „Ach wärst du doch in Düsseldorf geblieben“ im Kopf. Das Lied stand angeblich für das starke Heimweh des Mannes, das er sich nicht eingestehen wollte.

Tröstlich ist immerhin, dass Ohrwürmer eine normale Alltagserscheinung sind. „Nur in sehr seltenen Fällen ist das krankhaft“, sagt Altenmüller. So kann es bei Menschen, die ertaubt sind, vorkommen, dass das Gehirn selbst neue Melodien produziert, was sehr quälend sein kann. „Daneben gibt es auch akustische Halluzinationen“, berichtet der Neurologe. Sie kommen bei Demenz oder Schizophrenie vor. Berühmtestes Beispiel für solche „pathologischen Ohrwürmer“ ist Robert Schumann, der angeblich nachts von Geistern heimgesucht wurden, die ihm Musik einflüsterten.

Boney-M-Ohrwurm als Lebensretter

Verhasste Lieder sitzen manchmal so tief im Gedächtnis, dass die Erinnerung an sie in den seltsamsten Momenten wach wird: Im Film „Sturz ins Leere“ erzählt der britische Bergsteiger Joe Simpson, wie er sich schwer verwundet zum Basislager zurückkämpfte und dabei zu halluzinieren begann.

Ausgerechnet ein Schlager von Boney M, den er nicht ausstehen konnte, dröhnte ihm immerzu im Kopf: „Brown girl in the ring tra la la la la“ Das weckte bei ihm die Lebensgeister: Zu Boney M wollte er nicht sterben. Vielleicht hat ihm sein Zwergenchor am Ende das Leben gerettet.

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Die größten Ohrwürmer aller Zeiten

Forscher der schottischen Universität St. Andrews haben vor einigen Jahren sogar eine – nicht allzu ernst zu nehmende – Formel aufgestellt, die Songs auf ihr Ohrwurmpotenzial untersuchen soll. Sie bezieht unter anderem Wiederholungsraten, Vorhersehbarkeit und Überraschungsmoment der Hits ein. Daraus haben sie dann die größten Ohrwürmer aller Zeiten „errechnet“. Die Top 10 ihrer Rangliste wird von einer Band klar dominiert:


  1. Queen: „We Will Rock You“

  2. Pharrell Williams: „Happy“

  3. Queen: „We Are The Champions“
  4. .TheProclaimers:
    „I’m Gonna Be (500 Miles)“

  5. The Village People: „YMCA“

  6. Queen: „Bohemian Rhapsody“

  7. Europe: „The Final Countdown“

  8. Bon Jovi: „Livin’ On A Prayer“

  9. James Pierpoint: „Jingle Bells“
  10. Baha Men:
    „Who Let The Dogs Out?“