Die Begebenheit erinnert an das bekannte Hornberger Schießen: Zum angekündigten Besuch des Reichsmarschalls Hermann Göring, des designierten Nachfolgers von Adolf Hitler, im beschaulichen Hohentengen am Hochrhein im Jahr 1938, wurden Schülerinnen und Schüler für das Empfangskomitee aufgeboten.
Aufgeregt standen die herausgeputzten Buben und Mädchen mit kleinen Hakenkreuzfähnchen am Straßenrand und warteten gespannt auf den Besucher aus Berlin. Wann verschlägt es auch schon einmal einen so hochrangigen Repräsentanten der Reichsregierung und NSDAP an die deutsch-schweizerische Grenze?
Kinder müssen erneut auf die Straße
Doch zum angekündigten Termin erscheint Göring nicht, der Besuch wird kurzerhand auf den nächsten Tag verschoben. Unter demselben Getöse, in derselben Atmosphäre, der Anspannung und Erwartung warten die Schüler erneut an der Straße.
Auch in Lauchringen steht ein Teil der Bevölkerung einen ganzen Sonntagnachmittag quer durchs Dorf Spalier, mit dem Auftrag, Göring auf der Durchreise nach Hohentengen zuzuwinken. Der hochdekorierte Besuch aus Berlin wird allerdings weder in Lauchringen noch in Hohentengen gesichtet.
Schweizer Industrieller im Spiel
Man munkelt, der Grund für die angekündigte Stippvisite sei die Besichtigung des Rohrhofs bei Hohentengen und dessen eventueller Erwerb durch den zweitmächtigsten Mann im NS-Staat. Der Rohrhof wurde 1935 zuletzt vom Schweizer Zigarrenhersteller Villiger Söhne OHG erworben und dient Villiger zu dieser Zeit als Wildpark.
Das gesamte Gebiet, in etwa 166 Hektar groß, ist von einem knapp zwei Meter hohen Drahtzaun umgeben. Bei Wanderwegen kann der Zaun über fest montierte Leitern überstiegen werden.
Das eingezäunte Wild, unter anderem Damwild, Sikawild, Steinböcke und Mufflons, wurde größtenteils bereits vom schweizerischen Vorbesitzer, dem Lederfabrikanten Bertschinger, über den bekannten Tierhändler Hagenbeck in Hamburg 1909 angeschafft und hier im Süden angesiedelt.

Göring, passionierter Jäger und Reichsjagdminister, hatte ein Faible für die Forstwirtschaft. Die Flucht in romantische Scheinwelten hat er schon zuvor angetreten. Seine repräsentative Jagdresidenz Carinhall in der Schorfheide nordöstlich von Berlin ist eine solche inszenierte heile Welt.
Göring hatte das riesige Areal nach seiner ersten Ehefrau Carin, einer Schwedin, benannt, die 1931 an Tuberkulose gestorben war und die er hier in einem Mausoleum hatte bestatten lasen.
Freude an prächtigen Hirschen
Jahre vor seinem Interesse am Rohrhof ist Göring im Schwarzwald und in Schluchsee zu Besuch, um die Idee von prächtigen Hirschen als Königen der Wälder in deutschen Landschaften umzusetzen, was der Ideologie des Nationalsozialismus entspricht.
Mitte der 1930er-Jahre stimmt der „Kronprinz des Dritten Reichs“ einem Antrag des Forstamtsleiters von Schluchsee, Hermann Walli, zu, den ausgerotteten Rotwildbestand im Staatswald zwischen Schluchsee und St. Blasien wieder anzusiedeln.

Man beginnt 1937 mit der Errichtung eines 26 Hektar großen Eingewöhnungsgeheges, das im Laufe der Zeit auf 60 Hektar erweitert wird. Im Winter 1938 werden acht Rotwildtiere mit der Eisenbahn aus dem Erzgebirge herantransportiert und südwestlich vom Schluchsee ausgesetzt. Dies sind zwei Hirsche, drei Alttiere und drei Kälber.
Wildpopulation gefällt es im Schwarzwald
Die „Erzgebirgler“ scheinen sich im Schwarzwald wohlzufühlen, sodass die Population schnell ansteigt. Schon während des Zweiten Weltkriegs werden einzelne Hirsche erlegt. Zum Kriegsende 1945 leben 90 Tiere dort.
Den anrückenden französischen Besatzern möchte man das Rotwild aber nicht überlassen. Revierleiter Lang aus Schluchsee-Aha lässt rechtzeitig das Gatter durch den Waldarbeiter Kaiser öffnen und entlässt die Tiere so in die freie Wildbahn. Heute leben etwa 500 Nachkommen aus dem Erzgebirge im Rotwildgebiet Südschwarzwald.
„Lametta-Heini“ kommt doch noch
Zurück nach Hohentengen: Am dritten Tag lässt der Lehrer seine Schüler nicht mehr Spalier stehen. Es kommt, wie es kommen muss: Nun erscheint der aufgrund seines Hangs zu pompösen Auftritten und phantasievollen Uniformen im Volksmund „Lametta-Heini“ genannte Hermann Göring doch noch.
Allerdings endet der mit großem Getöse angekündigte Empfang peinlich unspektakulär. Göring sieht letztlich von einer Übernahme des Rohrhofs ab, da ihm der Hof zu nah an der Schweizer Grenze liegt. Ihm missfällt vor allem die mögliche „Einsichtnahme“ aus der Schweiz über die Landesgrenze hinweg durch das Schweizer Militär.
Nachfahren leben heute noch am Randen
Übrigens: Das Aus des Wildparks kommt mit den Kriegsjahren von 1939 bis 1945. Nachdem der Drahtzaun im Jagdgatter viele Lücken aufwies und nicht mehr repariert wurde, haben sich von dem ursprünglichen Bestand von circa 350 Stück Großwild über die vergangenen Jahrzehnte einzig die kleinen asiatischen Sika-Hirsche in der Region als sehr anpassungsfähig erwiesen.
Die Tiere sind in die Nachbarreviere, zum Beispiel am Südranden, gezogen und leben noch heute dort.
Der Autor dieses Textes ist Geschichtslehrer und lebt in Berau im Südschwarzwald.