Herr Blume, Sie engagieren sich sehr für das Thema Bildung, über das es viele Meinungen gibt. Sie haben schon Morddrohungen erhalten. Wie kam es dazu?
Im Januar habe ich ein Kurzvideo meines Vortrags beim Bundesbildungsprotest in Köln gemacht. Darin habe ich gesagt, dass ich der Auffassung bin, dass Bildung Faschismus verhindern kann. Unter das Video habe ich noch einmal geschrieben, welche Art von Bildung ich meine: nämlich eine humanistische Bildung mit Demokratieerziehung. Wie es immer so ist, fühlen sich dann davon manche angesprochen und wollten mich von der Bühne schießen.
Sie haben 2002 Abitur gemacht. Was haben Sie an der Schule gehasst?
Nur das letzte Jahr. Ich bin eigentlich sehr gerne zur Schule gegangen. Das letzte Jahr war aber sehr anstrengend, und wir hatten viele Lehrerwechsel. Ich hatte auch einen Lehrer, der genau das nicht gemacht hat, was ich von einem Lehrer erwarte, nämlich, dass er sich für uns interessiert. Davor waren die Lehrer zum Glück alle anders.
Waren Sie ein guter Schüler?
Meine Rückfrage wäre: Was ist ein guter Schüler? Wir hatten ja keine Noten (Blume besuchte eine Rudolf-Steiner-Schule, Anmerkung der Redaktion). Ich war ein sehr interessierter, manchmal aber auch renitenter und nerviger Schüler. Wenn ich was nicht kapiert habe, habe ich mich gemeldet und nachgefragt. Wenn ich was langweilig fand, habe ich mich eingebracht, weil ich nicht eingesehen habe, passiv da zu sitzen und mich zu langweilen. In meinem Zeugnis der ersten Klasse stand: Bob neigt dazu, die Wörter auf die Goldwaage zu legen.
Das passt ja zu Ihrem Beruf. Sie sind Lehrer für Deutsch, Englisch und Geschichte. Wenn Sie in eine neue Klasse kommen, wie führen Sie sich ein?
Das mache ich gar nicht mehr. Junge Lehrer neigen dazu, sich vorzustellen, ältere gehen eher gleich zum Organisatorischen über. Erstere Botschaft ist: Ich bin übrigens der und der. Das interessiert die Schüler erst mal nicht. Die andere Botschaft ist: Mir sind Checklisten wichtig. Das interessiert die Schüler zwar, ist aber auch langweilig. Ich lege in der ersten Stunde gleich los. Meiner Erfahrung nach interessiert die Schüler nicht, wer man ist, sondern was man mit ihnen macht. Wenn das gut ist, kommt irgendwann der Zeitpunkt, wo sie sich für einen interessieren.
Sie haben im vergangenen Schuljahr eine siebte Klasse in Deutsch unterrichtet. Wie sähe dieses direkte Einsteigen aus?
Wenn ich beim Thema Gedichte wirklich punkten wollte, würde ich das „Barbara“-Gedicht von Bodo Wartke nehmen.
Sie meinen den Zungenbrecher-Song über „Barbaras Rhabarberbar“ …
Genau. Dieser TikTok-Hit ist weltweit viral gegangen. Dann könnte man sich zusammen Gedanken machen, was eigentlich das Interessante an diesem Gedicht ist. Dann kann man zur Frage übergehen, was Sprache kann, warum sich Gedichte reimen, wie es sein kann, dass sich das so schnell verbreitet hat und was Gedichte eigentlich zu Gedichten macht. Wichtig ist Relevanz: Das heißt, im besten Fall kann ich mir mit Bildung die Welt etwas mehr erklären.
Herauszufinden, dass dieses Barbara-Gedicht auf Schlagreimen und Assonanzen (Anmerkung der Redaktion: Gleichklang mehrerer Wörter) beruht, ist schon cool. Dann kann man auch selber was produzieren. Das ist insofern relevant, als ich beim nächsten Hit mit meinen Freunden und Eltern darüber sprechen kann, warum das womöglich wieder so gut funktioniert hat.
Sollten sich Lehrer also auch in diesen Social-Media-Welten bewegen?
Unbedingt. Zumindest auf Instagram und TikTok, um bestimmte Tendenzen kennenzulernen und zu verstehen, was daran so interessant ist, und um es fruchtbar zu machen für den eigenen Unterricht. Allerdings sollte man X meiden, denn damit unterstützt man einen rechtslibertären Typen wie Elon Musk.
Dänemark macht im Moment eher wieder eine Rückwärtsrolle. Dort sollen die Lehrkräfte wieder mehr analog unterrichten. Wie müssen Handys und Laptops im Unterricht eingesetzt werden?
Die eigenen Smartphones sollten in der Schule tabu sein, weil alle möglichen Anwendungen die Schüler ablenken. Wichtiger ist, dass die Schulen genügend Geld haben, damit alle Schüler digitale Endgeräte nutzen können. Videos bieten zum Beispiel eine riesige Lernmöglichkeit. Statt als Lehrer dazu in Konkurrenz zu gehen, kann man diese produktiv einbinden. Ein YouTube-Video kann jedoch keine Fragen beantworten wie ein Lehrer und individuell unterstützen, wo Probleme auftauchen.
Man muss sich aber schon Gedanken machen, wann der Einsatz von digitalen Medien Sinn macht und wann nicht. Wichtig ist, sich zu überlegen, wie man eine tief greifende Medienkompetenz schaffen kann, damit die Schüler wissen, wann sie digitale Medien wie nutzen und wann eher nicht.

„Wozu muss ich das lernen?“ Diese Frage kennen Eltern – und die Diskussion, dass doch der digitale Assistent das alles viel schneller und besser kann. Was sagen Sie ihnen?
Erst einmal, dass sie nicht alleine sind. Diese Frage, dass der digitale Assistent das alles besser kann, ist ja keine rhetorische. Deshalb fordere ich, den Lernprozess in die Schule zu bringen. In den vergangenen Jahrzehnten war es eher so, dass die Schule Wissen vermittelt hat und die Schüler zu Hause dann in den Lernprozess gehen müssen. Deswegen verzweifeln Eltern: Entweder sie können unterstützen oder eben nicht. Schulen müssen aber zu dem Ort werden, wo Schüler den Lernprozess durchlaufen und erfahren, wie man im 21. Jahrhundert lernt.
Wie müsste Schule dann aussehen?
Im Idealfall hat man keine Lehrperson mehr, die den Ablauf steuert und wo 20 bis 30 Kinder zur selben Zeit dasselbe machen. Zum Beispiel könnten einige diskutieren, wie die Fragestellung zu einem bestimmten Thema aussieht. Ein anderes Kind lernt gerade mit KI, ein drittes guckt sich Netflix an – der Streamingdienst ist mittlerweile so gut, dass Achtklässler innerhalb von zwei Jahren so gut Englisch sprechen, dass sich mancher Lehrer fragt: Wozu braucht man uns noch?

Und wozu?
Lernen muss jeder selbst. Aber wo kommt die Einstellung her, dass man manche Dinge eben mit Anstrengung tun sollte – nämlich zu lernen? Dafür sind Lehrer fundamental wichtig. Die Frage ist nicht, wie wir verhindern, dass Schüler KI nutzen, sondern wie wir sie motivieren, KI eben gerade dort zu nutzen, wo sie ihr eigenes Lernen damit vertiefen können. Aber sich auch dort anzustrengen, um Grundkompetenzen zu entwickeln, ohne die sie KI gar nicht verstehen.
Inwiefern ändert sich dadurch die Rolle der Lehrer?
Oft ist es Zufall, ob ein Lehrer den Schülern die Möglichkeit gibt, auch mal Fehler zu machen, Begabungen auszutesten und aufmüpfig zu sein. Da wird dann das Fachliche abgeprüft und dafür eine Note gegeben. Und es braucht demokratische Entscheidungsprozesse. Die hat unser Schulsystem viel zu wenig. Demokratieerziehung in der Schule kann nicht über ein Arbeitsblatt abgehandelt werden. So habe ich in Englisch die Schüler entscheiden lassen, welches Buch sie am interessantesten fanden. In der Medien-AG haben wir Ideen für die Schule gesammelt, haben abgestimmt und sie umgesetzt.
Welche Ideen waren das?
Das waren zum Beispiel Hygieneartikel für die Mädchentoilette. Und die Anschaffung von Sitzsäcken, die dann auch die Lernkultur verändert haben, weil man sich auch mal außerhalb des Klassenzimmers zum Lernen hinsetzen kann. In der Demokratieerziehung ist es wichtig, dass Schüler sich selbst einbringen und nicht nur die Institutionen der Demokratie wie Bundesrat und Bundestag lernen – was natürlich auch wichtig ist. Wir müssen weg von einem rein kognitiv orientierten Wissensprozess.
Was bedeutet das dann fürs Lernen an sich?
Lehrer werden zu Mentoren, die den Lernprozess begleiten. Die Wissensaneignung über Videos wird nach Hause verlagert. In der Schule kann das Lernen dann begleitet werden und den Schülern überall dort geholfen werden, wo sie etwas nicht verstanden haben.

Sie haben auch mal an der Realschule Baiersbronn im Schwarzwald unterrichtet. Jeden Donnerstag gab es in jeder Klasse drei Stunden, in denen Projektarbeit stattfinden konnte. Was schätzen Sie an diesem Modell?
Das waren sogenannte Poolstunden, ein Schritt vor dem Konzept „Freiday“ von Margret Rasfeld, wo Schüler sich jeden Freitag mit Projekten beschäftigen, die aus dem Wunsch der Schüler entstehen. Manchmal sind Schüler auch überfordert zu sagen, was sie interessiert. Aber der Gedanke ist, dass Schüler durch eigenes Interesse, Recherche und die Möglichkeit, etwas anderes kennenzulernen, zu einer Freude an ihrem eigenen Lernprozess kommen, den sie dann auch als sinnstiftend wahrnehmen.
Da kann es auch schon grundsätzlich um die Frage gehen, wie ich eine Frage formulieren muss, damit sie sich überhaupt in einer bestimmten Zeit beantworten lässt.
Können Sie ein Beispiel für eine solche Projektarbeit geben?
Ich habe zum Beispiel mal ein Projekt gemacht im Deutschunterricht zu Filmen und der Frage, wie Filme aufgebaut sind, wie Emotionen erzeugt werden. Es gab auch ein Planspiel zu Konflikten, bei dem wir untersucht haben, wie diese entstehen und wieder beigelegt werden können. Wir hatten sogar eine 3-D-Landschaft mit den verschiedenen Parteien und den Medien entwickelt.
Solche Projekte bringen unheimlich viel für das Verständnis von Prozessen. Die Schüler erleben sich als selbstwirksam, weil sie eben auch Entscheidungen über diesen Lernprozess treffen können. Trotzdem bleiben die basalen Grundkenntnisse wie Schreiben, Lesen und Rechnen sehr wichtig, ebenso die Kompetenz in Bezug auf Haltung, Zuhören, Strecken im Unterricht.
Fast alle Länder, die bei den Pisa-Tests hervorragend abgeschnitten haben, teilen die Kinder erst später auf – bei uns geschieht das schon nach der vierten Klasse. Wäre das für uns auch ein probates Mittel?
Aus meiner Sicht ja. Es wäre gut, wenn die Kinder länger gemeinsam lernen. Und ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen, auch wenn es utopisch ist: Für mich wäre ein System wünschenswert, in dem solche Projekt-Schwerpunkte gesetzt werden könnten, in dem man sich die basalen Grundkenntnisse, aber auch praktische Tätigkeiten und eine Form von allgemeiner Bildung bis zur neunten Klasse aneignet: Dann beginnen verschiedene Zweige, die je nach Schüler rein kognitives Wissen vermitteln, eine Mischung aus Theorie und Praxis oder ganz praktisch weiterführen.
Was würden Sie Eltern gerne mit auf den Weg geben?
Für sie ist das sogenannte „Growth Mindset“ ganz wichtig, nämlich dass Anstrengung viel wichtiger ist als Talent. Das Lernen zählt mehr als die Note. Schon in der Grundschule sollte man eher fragen: Was habt ihr gemacht, was hast du gelernt, was hat dir Spaß gemacht anstatt: Was musst du machen und welche Note hast du? Eltern sollten den Lernprozess ihres Kindes loben und den Fortschritt, nicht so sehr die endgültige Note oder das Ergebnis.