„Die Schicht ist nie zu Ende“: Für pflegende Angehörige gibt es keine Ablösung
Vier Millionen Pflegebedürftige werden in Deutschland zu Hause versorgt. Für rund 900.000 von ihnen übernehmen Angehörige die Betreuung selbst – doch vielen von ihnen fehlt die notwendige Unterstützung.
Kornelia Schmid kümmert sich seit 30 Jahren selbst um ihren an Multipler Sklerose erkrankten Mann.
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Eigentlich wollten sich Rita und Günther Brugger im März ihren Traum erfüllen. Zur Goldenen Hochzeit wollten sie eine Seereise entlang der Hurtigruten-Strecke an der norwegischen Küste unternehmen. Doch stattdessen ging es vom Konstanzer Stadtteil Wollmatingen aus in die Altstadt und nach einem Essen im Konzil aufs Riesenrad am Hafen.
Denn das Rentnerpaar kümmert sich um Rita Bruggers demente Mutter. Und diese kann man nicht mehr alleine lassen – deswegen statt der großen Reise der kleine Ausflug mit ihr, den Kindern und den Enkeln. „Es war trotzdem ein sehr schöner Tag“, sagt Rita Brugger.
„Man hat sie doch lieb“: Die Pflege von Angehörigen ist eine Herausforderung, die viele Menschen ganz selbstverständlich annehmen.
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Die Bruggers gehören damit zu einer häufig vergessenen Gruppe von Menschen – eine Gruppe, die größer ist, als es oft den Anschein hat: Knapp vier Millionen Pflegebedürftige werden in Deutschland zu Hause versorgt, darunter fast 900.000 von Angehörigen wie den Bruggers. Sie leisten einen entscheidenden Beitrag zur Pflege, in der es an professionellem Personal mangelt.
Private Pflegende werden kaum wahrgenommen
Und während man auf politischer Ebene versucht, dem Notstand mit Verbesserungen in den Pflegeberufen und dem Anwerben von Fachkräften aus dem Ausland zu begegnen, werden die privaten Pflegerinnen und Pfleger oft kaum wahrgenommen. Sie machen den Job einfach.
Auch für die Bruggers war es selbstverständlich, die Mutter zu sich nach Hause zu holen und für sie zu sorgen, als diese nicht mehr alleine zurechtkam. Seit vier Jahren kümmern sie sich um die mittlerweile ziemlich demente 90-Jährige. Dabei geht es vor allem darum, sie abends und an den Wochenenden zu beschäftigen. Gespräche sind nur noch sehr begrenzt möglich.
In der Corona-Zeit den Lebensmut verloren
Nach dem Tod ihres Mannes vor zwölf Jahren war Lydia Brumm erst einmal ins betreute Wohnen gezogen, erzählt ihre Tochter Rita Brugger. Irgendwann ging das Leben dort nicht mehr, weil die Seniorin nachts die Nachbarn aus den Betten klingelte und die Körperhygiene vernachlässigte. In der Isolation während der Corona-Zeit habe ihre Mutter außerdem sehr viel an Lebensmut verloren, sagt die Tochter.
Rita Brugger (rechts) schaut sich mit ihrer Mutter ein Fotoalbum an. Unter der Woche ist Lydia Brumm in einer Tagespflegeeinrichtung.
| Bild: Ines Stöhr
Fast täglich stand die alte Dame damals verwirrt bei der Sekretärin im Büro und erkundigte sich, warum es keine Ausflüge mehr gebe. Vorher sei sie noch sehr selbstständig gewesen, erklärt Rita Brugger. „Sie ist jeden Tag mit dem Bus spazieren gefahren und hatte auch eine Dauerfahrkarte für die Fähre.“
Unter der Woche wird Lydia Brumm zur Tagespflege abgeholt. „Sie kann sich noch allein anziehen, nur bei Strumpfhosen braucht sie Hilfe.“ Aber auch bei den meisten anderen alltäglichen Dingen ist sie nach der Einstufung in die Pflegestufe 4 auf ihre 68-jährige Tochter und deren 71-jährigen Mann angewiesen. Die erste Etage haben die beiden für die alte Dame barrierefrei umgebaut, ihr eigenes Schlafzimmer befindet sich im Dachgeschoss.
„Wir haben nie Zeit für uns“
Wenn man pflegender Angehöriger ist, „ist die Schicht nie zu Ende“, schreibt ein Betroffener. Es komme nie die Ablösung – im Gegensatz zu professioneller Pflege. Das sei ein großes Problem. „Wir, die wir zu Hause pflegen, haben nie Zeit für uns.“ Der Eintrag stammt von einem Mitglied einer öffentlichen Facebook-Gruppe, die Kornelia Schmid vor mehr als zehn Jahren für pflegende Angehörige gegründet hat.
Mittlerweile hat die Gruppe fast 26.000 Mitglieder. Sie nutzen das Schwarmwissen, wenn es darum geht, wo man einen Rollstuhl für einen Tagesausflug mieten kann, wie teuer ein Seniorensessel sein darf und wann die Krankenkasse ein Taxi zum Arzt bezahlt.
Was motiviert die Angehörigen, jeden Tag aufs Neue die Herausforderungen der Pflege von bettlägerigen oder dementen Familienmitgliedern auf sich zu nehmen? „Man hat sie doch lieb“, sagt Kornelia Schmid, die sich seit 30 Jahren um ihren an Multipler Sklerose erkrankten Mann kümmert, zeitweise parallel zu ihrer dementen Mutter. Viele Pflegebedürftige möchten auch gar nicht von Fremden versorgt werden.
Größter Betreuungs- und Pflegedienst überhaupt
„Angehörige sind der größte Betreuungs- und Pflegedienst überhaupt und müssten daher in unserer Gesellschaft entsprechend gesehen, ernst genommen, akzeptiert, unterstützt und eingebunden werden“, bestätigt Schmid. Aus ihrer Facebook-Gruppe heraus hat sie 2017 den Verein „Pflegende Angehörige e.V.“ im oberpfälzischen Amberg gegründet, über den sich die Pflegenden austauschen können. „Nur wenn es den Pflegenden gut geht, geht es auch den Pflegebedürftigen gut!“ – so lautet das Motto des Vereins.
Kornelia Schmid kümmert sich seit 30 Jahren um ihren Mann, der Multiple Sklerose hat.
| Bild: privat
Angehörige sind oft plötzlich mit der Situation konfrontiert und fühlen sich dann alleingelassen. Viele wissen gar nicht, wo sie Hilfe bekommen. „Es fehlt an Aufklärung“, sagt Schmid. Das A und O seien niederschwellige Angebote zur Unterstützung der Pflegenden.
Eine ganz wichtige Anlaufstelle, die aber immer noch wenig bekannt ist, seien die Pflegestützpunkte, „der ADAC für pflegende Angehörige“. Dorthin könne man sich auch bei Fragen zu dem „unglaublich komplizierten“ Pflegeversicherungssystem wenden.
Anspruch auf Unterstützung
„Für pflegende Angehörige gibt es keine Lobby“, bedauert Schmid. Sie war in der Verwaltung im Sozialdienst der Bundeswehr tätig, musste ihren Beruf aber vor fast zehn Jahren aufgeben, weil ihr Mann rund um die Uhr Hilfe braucht. Dieses Jahr hätte sie selbst mehr Hilfe gebraucht: Nach einer Lungenentzündung war zu ihrer Genesung eigentlich eine Auszeit geplant, in der ihr Mann in der Kurzzeitpflege unterkam.
Mutter lag im Sterben
Doch in dieser Zeit lag ihre Mutter im Sterben, um die sie sich kümmerte. Ihrem dementen Hund ging es auch immer schlechter, bis er kurz darauf ebenfalls verstarb. Am Ende blieben nur vier Tage Erholung. Da sei sie an ihre Grenze gekommen, gesteht die 64-Jährige.
Ein Pflegebedürftiger mit Rollator. Wenn das Alleinleben nicht mehr möglich ist, springen oft Angehörige ein.
| Bild: Marijan Murat/dpa
Dagegen sind die Bruggers immerhin zu zweit, können so dem anderen immer wieder einmal eine Auszeit von der Betreuung der dementen Mutter ermöglichen. „Und die Tagespflege ist ein Geschenk“, sagt Günther Brugger. Zumal das Finanzielle kein Problem sei, sagt seine Frau: „Meine Mutter hat eine gute Rente.“
Das können sich aber längst nicht alle leisten. Eine Studie des Sozialverbands VdK unter Pflegenden von 2023 hat ergeben, dass zwei Drittel der Betroffenen ihre eigene Gesundheit vernachlässigen.
Achtsamkeitsübungen für pflegende Angehörige
Ebenso viele haben keine Zeit mehr für eigene Interessen oder Hobbys. Zwischen 100 und 2000 Euro im Monat beträgt darüber hinaus der Verdienstausfall bei den Befragten, je nachdem, um wie viel Prozent sie die Arbeitszeit verkürzt haben. Der VdK fordert deshalb schon länger eine eigene finanzielle Leistung für die Zeit der Pflegetätigkeit, deren Höhe sich nach dem tatsächlichen Aufwand richtet.
Bundesfamilienministerin Lisa Paus betonte vor zwei Jahren: „Pflegende Angehörige leisten enorm viel. Sie machen es möglich, dass viele Menschen ihren Wunsch nach einem Altwerden in vertrauter Umgebung verwirklichen können. Sie müssen besser unterstützt werden und finanziell abgesichert sein.“
Spürbare Verbesserungen noch nicht in Sicht
Sehr weit ist man damit noch nicht gekommen: Das Ministerium plane „eine Reform der Familienpflegezeit, die im Ergebnis spürbare Verbesserungen für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf sicherstellen soll“, erklärt eine Sprecherin der Behörde auf Anfrage des SÜDKURIER. Man könne allerdings immer noch nicht sagen, was passieren solle und wann: „Die dazu erforderlichen regierungsinternen Abstimmungen sind noch nicht abgeschlossen.“
Tipps für den Ernstfall
Für die Zeit nach ihrer Berufstätigkeit hatten die Bruggers eigentlich schon genaue Pläne: Sie wollten im Sommer die Zeit auf dem Boot verbringen, viel reisen und sich an den Wochenenden mit Freunden treffen. Diese Pläne liegen jetzt erst einmal auf Eis.
Ihre Mutter für ein paar Tage in die Kurzzeitpflege zu geben, habe sich als schwierig erwiesen, sagt Rita Brugger. Hinterher dauere es dann sehr lange, bis sich die 90-Jährige zu Hause wieder zurechtfindet. Das will die Tochter ihr nicht zumuten. „Da verzichte ich lieber auf Urlaub.“
Beratung holen
Egal, ob die Anzeichen schon länger auf eine Pflegebedürftigkeit hindeuten oder ob der Pflegefall plötzlich eintritt: Wichtig ist professionelle Beratung zum Beispiel bei Pflegestützpunkten in den Kommunen, bei Seniorenbüros und Wohlfahrtsverbänden. In Kliniken gibt es Sozialdienste, die bei ersten Schritten helfen. Auch im Internet finden sich Möglichkeiten der Online-Beratung. So betreiben die Ersatzkassen das Webportal Pflegelotse.de, die AOK betreibt den Pflege-Navigator.