Der Staufener Missbrauchsprozess verläuft zügig. Sehr zügig. Die Zeugenaussagen sind nach wenigen Prozesstagen schon fast abgeschlossen. Trotz der Schwere der Vorwürfe, ihrer Vielzahl und mehreren Jungen, die Christian L. zum Opfer fielen. Der Mann, der da vor Gericht sitzt, hat die Taten teilweise zugegeben. Der frühere Pfadfinderbetreuer soll vier Jungen im Alter von acht bis 14 Jahren in Staufen bei Freiburg sexuell missbraucht angetan haben – einen von ihnen mehrmals pro Woche, über Jahre.

Christian L., Angeklagter im Prozess um Kindesmissbrauch, im Gespräch mit seinem Anwalt Stephan Althaus.
Christian L., Angeklagter im Prozess um Kindesmissbrauch, im Gespräch mit seinem Anwalt Stephan Althaus. | Bild: Moll, Mirjam

An diesem Tag wird Jörg Biehler, der Hauptermittler in dem Fall, aussagen. L.s Anwalt Stephan Althaus versucht, die Öffentlichkeit ausschließen zu lassen – wieder steht der Schutz des Sexual- und Familienlebens des Angeklagten im Raum. Der Richter gibt dem Antrag nur teilweise statt. Die Öffentlichkeit soll hören, was Biehler über seine Ermittlungen zu sagen hat.

Schwierige Zeugenvernehmungen

Der 54-Jährige hat bereits im ersten Staufener Missbrauchsfall ermittelt. Doch die Arbeit wird nicht leichter. Kein bisschen. Das merkt man ihm an. In einer kurzen Pause sieht man ihn sichtlich Luft holen. Das worüber er da berichten muss, geht nicht spurlos an ihm vorbei.

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Gerade hat er von der Vernehmung von Robert V. erzählt. Der Junge musste von den hier Betroffenen wohl am meisten ertragen. Er wurde von Christian L. manipuliert, bevor er überhaupt aufgeklärt war. Der Mann, zu dem er aufschaute, den er „anhimmelte“, weil er „so viel konnte“, wie Gitarre spielen zum Beispiel, wurde von seinen Opfern immer wieder bewundert als „Lichtgestalt“.

Manipulatives Vorgehen

Das ist etwas, das Biehler in seinen Ermittlungen besonders auffiel: Der Mann ging immer gleich vor, führte den Missbrauch nach und nach ein, brachte die Kinder dazu, ihm zu gehorchen, zu tun, was er von ihnen wollte: „Er hat es ihnen so beigebracht“, sagt er vor Gericht.

Biehler berichtet, wie schwierig es war, Robert V. dazu zu bringen, über seine Erlebnisse zu sprechen. Vieles habe er nie aussprechen können, betont der Ermittler. Der heutige Jugendliche habe es schließlich aufgeschrieben.

Der Angeklagte Christian L. bedeckt sein Gesicht zum Schutz vor den Kameras mit einer Jacke.
Der Angeklagte Christian L. bedeckt sein Gesicht zum Schutz vor den Kameras mit einer Jacke. | Bild: Moll, Mirjam

Die Worte konnte er nicht sagen. Nicht, dass er vergewaltigt wurde, dass ein erwachsener Mann gegen seinen Willen in ihn eindrang. Nicht, dass er im Schlafzimmer seiner Mutter, mit der Christian L. augenscheinlich eine Beziehung führte, und in der Badewanne zum Sex mit dem Mann gezwungen wurde, zu dem er einst aufgesehen hatte.

„Viel zu oft“ sei das alles passiert, erinnert sich Biehler an die Aussage des Jungen. Aber Gewalt sei nie wirklich im Spiel gewesen. Das war auch nicht nötig, sagt der Ermittler sinngemäß. Christian L. hat den Jungen ja immer wieder suggeriert, dass das, was er mit ihnen tat, normal sei. Robert V. sagt, L. habe ihm „eben gut zugeredet, dass es ja gar nicht so schlimm wäre“.

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Biehler geht stark ins Detail – das muss er, um die dahinterliegende Straftat zu identifizieren. Ob es um Missbrauch oder schweren Missbrauch ging.

„Die Scham ist riesig für die Jungs“
Jörg Biehler, Hauptermittler im Fall

Nicht alle können mit ihm darüber reden. Biehler geht davon aus, dass es weitere Opfer gab, die bislang aber nicht aussagen wollen – oder nicht können. „Die Scham ist riesig für die Jungs“, betont Biehler. Im Protokoll einer Vernehmung mit Robert V. steht, dass dem Jugendlichen Tränen über das Gesicht rannen, als er darüber sprach, was ihm passiert sei. Seine Antworten sind oft kurz, beschränken sich auf „Ja“ oder „Nein“. Nur manchmal sagt er, wie es war.

Biehler ist überzeugt, dass der alte Fall, in dem Christian L. in zweiter Instanz vom Landgericht Freiburg vom Verdacht des Kindesmissbrauchs freigesprochen wurde, sich so zugetragen hat, wie es Paul (Name geändert zum Schutz des Opfers) damals beschrieben hatte. Dass Christian L. ihn während eines Zeltlagers der Pfadfinder anfasste. Das damalige Opfer bleibe auch heute noch bei ihrer Version.

Opferanwältin Katja Ravat spricht mit Staatsanwältin Nikola Novak vor Beginn des Prozesses um Christian L., dem Hauptangeklagten im ...
Opferanwältin Katja Ravat spricht mit Staatsanwältin Nikola Novak vor Beginn des Prozesses um Christian L., dem Hauptangeklagten im neuen Staufener Missbrauchsfall. | Bild: Moll, Mirjam

Staatsanwältin Nikola Novak beantragte, die Eltern noch einmal als Zeugen zu laden. Das Gericht lehnte das ab. Der Fall ist abgeschlossen. Zweifel kamen damals auf, weil der Junge damals im Beisein des früheren Pfarrers mit seinem mutmaßlichen Peiniger konfrontiert wurde, im Beisein der Eltern. Seine Aussagen waren dadurch nicht zweifelsfrei glaubhaft für das Gericht. Die Strafe von sechs Monaten auf Bewährung wurde aufgehoben.

Christian L. nahm seine Arbeit bei der Kirche wieder auf – suchte sich neue Opfer. Jungs im vorpubertären Alter, sagt der Ermittler. Sobald sie in die Pubertät kamen, habe L. das Interesse verloren. Zeitliche Überschneidungen habe es nicht gegeben, immer ein Kind nach dem anderen – über Jahre und trotz Beobachtungen.

Beobachtungen ohne Folgen

Beobachtungen wie jene der Kirchensekretärin, die es seltsam fand, dass L. ein Porträtbild eines Jungen auf seinem Schreibtisch im Gemeindehaus stehen hatte. Es gibt Bilder, sagt Biehler, da wirke die abgebildete Zweisamkeit wie die eines Liebespaares. Eines zeige L. mit einem Kind in der Hängematte, eng umschlungen. Für die Kinder war er so etwas wie ein Ersatzvater. Für ihn waren sie etwas anderes.

In dieser Kirchengemeinde in Staufen arbeitete Christian L.
In dieser Kirchengemeinde in Staufen arbeitete Christian L. | Bild: Moll, Mirjam

Nur wenige Zuschauer sind an diesem Tag vor Gericht. Genau genommen nur einer, zieht man die Pressevertreter ab. Und der fällt auf: Es ist der heutige Pfarrer von Staufen, Theo Breisacher. „Mühsam“ findet er diese Gerichtsverhandlung. Er ist zum ersten Mal in diesem Prozess und nach eigenen Angaben auch zum ersten Mal überhaupt in einem Gerichtssaal.

Der heutige Pfarrer der Staufener Kirchengemeinde, Theo Breisacher, spricht 2019 mit dem SÜDKURIER über den Vorfall.
Der heutige Pfarrer der Staufener Kirchengemeinde, Theo Breisacher, spricht 2019 mit dem SÜDKURIER über den Vorfall. | Bild: Moll, Mirjam

Das Kirchenoberhaupt sei „rein privat“ hier, betont er. Er lauscht den Ausführungen des Gerichts, seine Miene verrät nichts darüber, was er denkt. In der Pause hat er es dann eilig, als er vom SÜDKURIER angesprochen wird, er müsse los. Der Pfarrer steckt sein Buch weg – der Titel deutet auf ein Buch über die Liebe Jesu hin, und geht.

Biehler kann nicht weg, er muss weiter aussagen.

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