Alexander Michel alexander.michel@suedkurier.de

Normalerweise herrscht auf dem Truppenübungsplatz Heuberg an Wochenenden Frieden. Die Bundeswehr hat ihre Panzer in die Kaserne von Stetten am kalten Markt gefahren und überlässt die Einsamkeit sich selbst. Am vergangenen Samstag war das anders. Da wurde auf der verregneten Hochebene des Heubergs der Terror abgewehrt und um Menscheleben gekämpft. Ob der Angriff – wie jüngst in Halle – als der rechtsextremistischen oder der islamistischen Ecke kam, das war bei der Großübung nicht die Frage. Vielmehr war die Aufgabe, ein Horror-Szenario zu bewältigen, das Polizei, Rettungskräfte und Bundeswehr Schulter an Schulter sieht.

Tatort Konstanz: Ein Straßenschild weist auf die Marktstätte hin, die man zu Übungszwecken nachempfunden hat.
Tatort Konstanz: Ein Straßenschild weist auf die Marktstätte hin, die man zu Übungszwecken nachempfunden hat. | Bild: Kipar, Sandro

Dafür wurden im Stuttgarter Innenministerium ein Jahr lang Pläne gemacht. Eines der Ergebnisse sieht man nun auf dem Heuberg. Es nennt sich – wie ein blaues Straßenschild verrät – „Marktstätte“. Das belebte Herz der Konstanzer Innenstadt ist bei der Übung allerdings nur eine große Wiese, umstanden von verbeulten Wellblechhütten und einem Dutzend kleiner weißer Üb-Häuser, die an die Klötzchen bei Monopoly erinnern. Rechts neben einer Zuschauertribüne geht es zur „Münzgasse“. Absperrgitter markieren die Operationszone, ein alter silberner Audi wurde im Zentrum abgestellt. Verdächtig.

Blick auf die „Marktstätte“. Sie wird durch zwei Reihen weißer kleiner Üb-Häuser markiert.
Blick auf die „Marktstätte“. Sie wird durch zwei Reihen weißer kleiner Üb-Häuser markiert. | Bild: Kipar, Sandro

Ein ganzer Pulk von Zivilisten – es handelt sich um Polizeischüler – marschiert im Gleichschritt heran, macht kurz vor der Tribüne Front und verteilt sich Richtung Hüttendorf. Viele tragen aus Sicherheitsgründen Taucherbrillen vor dem Gesicht, manche sind bereits blutig geschminkt. Es soll alles realistisch aussehen heute.

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Polizei zeigt Transparenz

Etwa 50 Journalisten und Kameraleute hat das Stuttgarter Innenministerium zum Manöver eingeladen. Anders als bei der Anti-Terrorübung am Singener Bahnhof vor wenigen Wochen ist Öffentlichkeit erwünscht. Ein halbes Dutzend Polizeioffiziere erklärt auf Fragen detailliert alle Schritte des Schauspiels, das sich gleich vor den Kameras entfalten wird. Ohrenstöpsel wurden ausgegeben und Merkblätter zur „korrekten Einführung“ verteilt. „Auch eine Übung ist nicht ungefährlich“, wird Innenminister Thomas Strobl zum Schluss der „Terrorismusabwehr Exercise 2019“ sagen.

Bild 3: Was wäre wenn . . . <br />der Terror nach Konstanz käme?
Bild: Kipar, Sandro

Aber noch ist es kurz nach 9 Uhr. Frieden herrscht, und alles steht auf Los. Eine Detonation in 100 Metern Entfernung hüllt den Schrottplatz-Audi in eine Rauchwolke. Vier Männer in Räuberzivil mit Sturmhauben und bewaffnet mit Maschinenpistolen MP 5 laufen in die Szene. Dann erste Salven. Mit Platzpatronen, aber laut und deutlich. Die Passanten-Darsteller suchen schreiend das Weite, sechs brechen getroffen vor der Zuschauertribüne zusammen und rühren sich nicht mehr. Die Angreifer werden von Polizei aus Rheinland-Pfalz gestellt. Das gehört zum Plan. Niemand kennt den Gegner.

Wie viele Terroristen sind es?

Die vier Schützen sind nicht allein. Sie haben Komplizen. In einem Hotel, so die Information, werden Gäste und Geschäftsführer bedroht. Die Detonation hat Brandalarm ausgelöst. Ein Löschzug der Feuerwehr nähert sich. Die Besatzung weiß nichts von Terroristen. Noch eine Gefahr. Die Planer wollen viel Chaos, denn die Wirklichkeit ist chaotisch. Mit Sirenengeheul nähern sich zwei Streifenwagen. Auch die vier Beamten vom Polizeirevier Konstanz können nur ahnen, was passiert ist. Sie parken in sicherer Distanz.

Im Vordergrund liegen bereits die ersten schwer verletzten Opfer. Im Hintergrund machen sich Konstanzer Streifenpolizisten für den ...
Im Vordergrund liegen bereits die ersten schwer verletzten Opfer. Im Hintergrund machen sich Konstanzer Streifenpolizisten für den Gegenangriff bereit. | Bild: Steinmüller, Hermann-Peter

„Man darf nicht blind ins Verderben rennen“, erklärt eine Polizeibeamtin dem Zuschauer. Auch wenn die Verletzten nach Hilfe rufen, „die Eigensicherung geht vor“. So wie es jener Polizeibeamte tat, der 2018 zur Schießerei in der Konstanzer Diskothek „Grey“ gerufen wurde: Die zusätzlich Schutzausstattung anlegen und den Helm aus Titan aufsetzen, der dem Beamten das Leben rettete. So kommen rund 20 Kilo zusätzlich auf den Körper. Dann werden die – inzwischen neu angeschafften – kurzen Maschinenpistolen MP 7 geladen. Auch diese Feuerspritzen (theoretisch 950 Schuss pro Minute) sie sind immer im Streifenwagen.

Im Tunnelblick

In gebückter Haltung, die MP in Augenhöhe, rücken sechs Polizisten – das Interventionsteam – zur „Marktstätte“ vor. Richtung Gegner. Wer das ist, wo er steckt, wie viele es sind? Niemand weiß bisher Genaues. Dominik Becker, 38, Dienstgruppenleiter im Polizeirevier Konstanz, wird später sagen: „Meine Kollegen und ich wurden direkt beschossen.“ Zwar wisse man, dass es eine Übung ist. „Aber irgendwann beginnt dieser Tunnelblick, und dann fängt man an, die Situation sehr ernst zu nehmen.“

Das Abseilen der aus Göppingen eingeflogenen Spezialkräfte der Landespolizei gehörte zu den Actionszenen bei der Anti-Terror-Großübung ...
Das Abseilen der aus Göppingen eingeflogenen Spezialkräfte der Landespolizei gehörte zu den Actionszenen bei der Anti-Terror-Großübung auf dem Truppenübungsplatz in Stetten | Bild: Steinmüller, Hermann-Peter

Dann naht Unterstützung aus Göppingen. Ein Team des Spezialeinsatzkommandos (SEK) seilt sich hinter einem Erdwall aus einem Helicopter ab, der aus den tiefliegenden Wolken stößt. In Wirklichkeit würde es viel länger dauern, bis er in Konstanz einträfe.

Ein SEK-Soldat mit Sturmgewehr sichert in der Hocke.
Ein SEK-Soldat mit Sturmgewehr sichert in der Hocke. | Bild: Kipar, Sandro

Aber nun greifen die schwerer bewaffneten und für den Häuserkampf trainierten Elite-Männer ins Geschehen ein und bewegen sich gebückt auf das Wellblech-Hotel zu. Dort entbrennt ein heftiger Feuerkampf. Stille – Schüsse – Stille. Neutrale Schiedsrichter entscheiden wie bei einem Manöver, wer wen – im Fachjargon – „neutralisiert“ hat.

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Ein GTK-“Boxer“-Panzer der Bundeswehr rollt in die Szenerie. Er kann den Polizisten Schutz bieten – und dabei helfen, Verletzte aus der Gefahrenzone zu bringen. | Bild: Kipar, Sandro

Inzwischen eilen den Streifenbeamten gepanzerte Radfahrzeuge der Bundeswehr zu Hilfe. Der GTK-“Boxer“ an der Spitze bietet nicht nur Feuerschutz, sondern kann als Sanitätsfahrzeug Verletzte aus der Gefahrenzone bergen. Das wird hier aber nicht geübt. Denn dazu müsste der 25-Tonnen-Riese mit seinen acht Rädern über einen Verletzten steuern, damit der durch die Bodenklappe geborgen werden kann. Das geht aber nur mit Einweiser und gehört heute nicht zum Szenario der „Crash-Rettung“, wie sie im Fachjargon heißt.

Sanitäter bringen von der Sammelstelle einen Mann. Ihm hat man einen Bauchschuss zugeschrieben. Er muss in eine Klinik geflogen werden.
Sanitäter bringen von der Sammelstelle einen Mann. Ihm hat man einen Bauchschuss zugeschrieben. Er muss in eine Klinik geflogen werden. | Bild: Kipar, Sandro

Zum Szenario gehört aber die Versorgung der vielen Schwerverletzten. Sie ist deutlich komplexer als das professionelle Niederkämpfen der Terroristen. Jeder verletzte Komparse wird nämlich wie ein echter Verwundeter behandelt. Der Ablauf ist klar geregelt: Die Opfer werden zunächst im Panzer aus der Gefahrenzone und dann zu einer Sammelstelle gebracht. Das halbe Dutzend Zelte, wo die Untersuchung durch Sanitäter stattfindet, wurde am Morgen im Rekordtempo von 45 Minuten aufgebaut. „Wir sind auf Schuss-, Splitter- und Sturzverletzungen vorbereitet“, sagt der leitende Sanitäter Heiko Lebherz. Die Menschen werden nach der Gefährlichkeit ihrer Verletzungen kategorisiert, stabilisiert und zum Weitertransport vorbereitet. 100 Angelieferte haben die Sammelstelle schon durchlaufen – mit allen bürokratischen Abläufen und Papierkram. Auch das gehört heute zur Großübung, an der 2500 Personen beteiligt sind.

Der SAR-Rettungshubschrauber der Bundeswehr. Er fliegt einen Verletzten-Darsteller nach Friedrichshafen.
Der SAR-Rettungshubschrauber der Bundeswehr. Er fliegt einen Verletzten-Darsteller nach Friedrichshafen. | Bild: Kipar, Sandro

Gegenüber dem Zaun der Albkaserne von Stetten warten sechs Hubschrauber. Sie werden die Simulanten zu Kliniken nach Friedrichshafen, Konstanz und Sigmaringen fliegen. Der Bundeswehrhauptmann vom Fliegerhorst Niederstetten im Main-Tauber-Kreis steht vor seinem betagten Bell-SAR-Hubschrauber. Und wartet. Übungen brauchen Geduld, nicht alles läuft wie geölt. Über nach einer Stunden im Regen treffen Schlag auf Schlag die Schwerverletzten in Rettungsfahrzeugen an. Der Hauptmann bekommt einen Bauchschuss-Patienten zugeteilt. Als sei er wirklich lebensgefährlich verwundet, wird der Mann mit einer Trage an Bord gebracht. Drei Minuten später ist der Helikopter in der Luft. Blätter wirbeln auf. Kurz darauf heben die anderen Hubschrauber nacheinander ab.

In Wirklichkeit muss heute niemand ärztlich behandelt werden. Am Nachmittag kann Innenminister Thomas Strobl, mit dem Dienst-Audi nach Stetten gefahren, Entwarnung geben. Es habe heute „nicht mehr als einige leichte Unterkühlungen“ gegeben. Der Heuberg ist eben eine kalte Ecke.