Auf den ersten Blick scheint alles wie immer. Elterntaxis fahren so nah wie irgend möglich an den Eingang des Friedrich-Wöhler-Gymnasiums heran, Schüler fahren mit ihren Rädern zum Fahrradstellplatz, der rappelvoll steht. Ein paar Zuspätkommer rennen schnaufend mit Maske Richtung Klassenzimmer. Aber von Chaos oder Unruhe ist an diesem Morgen an der Singener Schule rein gar nichts zu spüren.
Schulleiterin Sabine Beck koordiniert die Verteilung der Testboxen, die die 48-Jährige bis am Freitagabend spät noch selbst bestückt hat. 49 Stück an der Zahl – für 48 Lerngruppen und die Notbetreuung. Ein Lehrer schneit herein, schnappt sich die für ihn vorgesehene Box: „Wird schon klappen“, sagt er, wohl mehr zu sich selbst.
Die Lehrer wurden mit einem Videoclip aus Österreich geschult, wie die Tests ablaufen. Das gleiche Video bekamen die Schüler geschickt, die zum Schulbeginn eine Einverständniserklärung mitbringen mussten, dass sie die Tests an sich selbst in der Schule machen dürfen. Ein Schüler hat die Erklärung zu Hause vergessen. Beck muss ihn nach Hause schicken.

Ob die Lieferungen rechtzeitig kommen würden, wusste sie Anfang vergangener Woche noch nicht. Die letzten Lieferungen aus der ersten Tranche kommen nach Angaben des Landes erst in dieser Woche an. Nach Angaben des Sozialministeriums haben landesweit aber nur sechs von 1100 Kommunen noch keine Testkits erhalten. Nach Kenntnis des Sozialministeriums sind davon die Kommunen Kirchberg an der Murr, Umkirch, Angelbachtal, Owen, Hohentengen und Eriskirch betroffen.
Der SÜDKURIER erfuhr jedoch von einzelnen Schulen aus dem Verbreitungsgebiet, dass diese ebenfalls keine Lieferungen erhalten haben.
Sicherheitshalber hat die Stadt Singen zum Schulstart aber selbst Tests beordert und der Schule geliefert, die waren innerhalb eines Tages da. Mitte der Woche kam dann auch die Lieferung vom Land, aber darauf wollte sich hier eben niemand verlassen. In jedem Fall sollte daran die Schulöffnung nicht scheitern. 550 Schüler etwa sind an diesem Morgen im Präsenzunterricht.
Die Abiturienten bleiben daheim
Lediglich der Abiturjahrgang bleibt bis zu den Prüfungen in zwei Wochen zu Hause – um die Schüler vor möglichen Infektionen zu schützen und damit sie die Prüfungen in jedem Fall schreiben können. Doch das ist nicht an allen Schulen der Fall. Am Wochenende hat der Südwesten die neue Corona-Verordnung verabschiedet, die vorgibt, dass Schulen in Landkreisen mit Inzidenzen über 200 geschlossen bleiben müssen.
Acht Landkreise sind davon betroffen, weitere stehen auf der Kippe. Seitens des Sozialministeriums heißt es: Es sei „davon auszugehen, dass auch in weiteren Kreisen beziehungsweise Kommunen Schulen heute nicht in den Wechselbetrieb in Präsenz übergegangen sind“, da eine baldige Schließung wegen der Infektionslage schon absehbar sei. Konkrete Zahlen nennt der Sprecher nicht.

Auch Beck zitterte ob der Inzidenz im Landkreis Konstanz, die zwischenzeitlich bei 180 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen lag. „Schön, dass die Schule wieder pulst“, sagt deshalb auch Becks Stellvertreter Florian Berchthold.
Das Land hat den Schulen allerdings einen gewissen Ermessensspielraum eingeräumt, heißt es auf Nachfrage beim Kultusministerium: Demnach dürfen Schulen in Kreisen mit Inzidenzwerten knapp unter 200 „im Sinne eines pragmatischen Vorgehens entscheiden“, ob sie die Schulen dann überhaupt öffnen wollen. Liegt die Inzidenz allerdings drei Tage über 200, muss die Notbremse gezogen werden. Beck hofft, dass das der Schule erspart bleibt.
Vier Millionen Tests im Land
Bis am Freitag seien 4,1 Millionen Tests an die Schulen in Baden-Württemberg ausgeliefert worden, verkündet das Sozialministerium am Wochenende. „Auch wenn manche Schulen aufgrund der kurzfristigen Lieferschwierigkeiten einiger Produzenten erst am Freitag von den Landkreisen mit Testkits beliefert werden konnten, so bleibt unterm Strich, dass ab Montag dort, wo es die Inzidenzlage erlaubt, die Schulen mit Testungen in den Unterrichtsbetrieb starten können“, erklärte Gesundheitsminister Manfred Lucha. Es klingt ein wenig nach Schulterklopfen – auf die eigenen in dem Fall.
In den Schulen sieht man die kurzfristigen Mitteilungen aus dem Kultusministerium und Regeländerungen aus dem Sozialministerium nicht ganz so positiv. Schulleiterin Sabine Beck sagt rundheraus: „Rechtzeitig kommt da eigentlich gar nichts.“ Die 48-Jährige ist spätestens seit vergangenem Frühjahr mehr Krisenmanagerin als Schulrektorin.

Fünf Mal hat sie allein in diesem Jahr den Stundenplan umstellen müssen – um die Schüler je nach Profilfach sinnvoll einzuteilen in Gruppen für den Wechselunterricht. Der Sportunterricht wurde an den Rand des Stundenplans geschoben, damit er ausfallen kann, ohne dass Lücken entstehen, in denen sich die Frage stellt, wo sich die Schüler aufhalten können. Und damit Lehrer zur Verfügung stehen, die die Notbetreuung übernehmen können. Denn zusätzliches Personal dafür gibt es nicht.
Die Mittagspause musste ausgedehnt werden, damit nie mehr als fünf Klassen gleichzeitig Pause haben und der Abstand auf dem Schulhof zumindest in der Theorie eingehalten werden kann. Praktisch lässt es sich kaum vermeiden, dass sich kleine Gruppen bilden. Teenager eben.
Nicht jede Gruppenbildung lässt sich verhindern
Auf dem Flur im Schulgebäude steht eine Fünfergruppe zusammen. „Immerhin tragen sie Masken“, sagt Beck, wissend, dass sie solche kurzen Begegnungen auf den Fluren nie ganz wird verhindern können. Was sie kontrollieren kann, tut sie dagegen mit Akribie: Schon vor Schuljahresbeginn plante Beck Varianten je nachdem, ob voller Präsenzunterricht, Fernunterricht oder Wechselunterricht stattfinden würde – etwas, was viel zu lange unklar blieb für die Schulen.
Reiner Fernunterricht oder reiner Präsenzunterricht, das sei beides sehr gut machbar, sagt Beck. „Aber die Mischform Wechselunterricht ist eine Wahnsinnsbelastung für die Kollegen“, betont die Direktorin.
Denn: Anders als beim Fernunterricht, bei dem die Lehrer in Chats oder Videokonferenzen für ihre Schüler direkt ansprechbar sind und sie zumindest auf Abstand betreuen können, müssen sich die Schüler, die beim Wechselunterricht nicht zu der Gruppe im Präsenzunterricht gehören, zu Hause über die Lernplattform Moodle in Eigenregie den Lehrstoff bearbeiten. Lehrer können zwar Videos und ähnliches einstellen – die Vorbereitung kostet aber entsprechend zusätzliche Zeit, die nicht alle haben.

Eine Live-Verbindung in den Unterricht, das geht schon deshalb nicht, weil nach wie vor viele Schüler auf dem Land mehr schlecht als recht mit dem World Wide Web verbunden sind. Das Dauerstreamen würde wohl auch den Schulserver überfordern. Schon dass sich alle mit Videobild zuschalten, sei nicht möglich. Und zudem müssten alle Klassenräume mit Beamer, Videokamera und Leinwand ausgestattet werden. Geld, das die Stadt nicht hat.
Erst seit Jahresbeginn ist die Schule mit einem Breitbandanschluss versorgt, Beck hat zudem einen eigenen Server angemietet. Probleme mit Moodle gebe es aber selten, bislang zwei Mal für etwa 15 Minuten brach das System demnach zusammen und da konnte die Schule auf den eigenen Server zurückgreifen.
Hauptsache Unterricht
Beck ist froh, dass die Schüler nun wieder in den Präsenzunterricht kommen können. Sie fürchtet um die Entwicklung der Kinder. Damit meint sie aber nicht nur Lernrückstände vor allem bei den Fremdsprachen, wo den Kindern die Begleitung der Lehrer besonders fehlt. „Die Schule gibt ihnen Struktur“, sagt Beck. Dieser feste Rahmen sei mit der Pandemie weggebrochen. Die Folgen: Depressionen und Verhaltensveränderungen, die sich manifestieren könnten, fürchtet Beck. Sie moniert: „Mir fehlt ein Signal der Politik, sich um die Jugendlichen zu kümmern.“
Für jene, die im Unterricht sind, fängt der nun zwei Mal pro Woche mit Tests an. Um keine Unterrichtszeit zu verlieren, beginnt die Schule zehn Minuten früher. Mathematiklehrer Berchthold hat schon vorher ausgerechnet, wie viele Tests positiv ausfallen würden an der Schule – Wahrscheinlichkeitsrechnung mit praktischer Anwendung. Seine Prognose: „Fünf werden positive Ergebnisse haben, davon ist dann aber nur einer tatsächlich positiv, legt man die Fehlerquote der Schnelltests zugrunde.“
Testen in der ersten Stunde
In der siebten Klasse muss Lehrerin Sara Hohe ihren Schülern nicht die letzte Klassenarbeit, sondern Testkits austeilen. Jeder bekommt ein Papiertuch, ein Teststreifen, ein Wattestäbchen. Die Schüler hören nicht alle zu, geduldig erklärt Hohe auch den Unaufmerksamen noch einmal, wie der Test funktioniert. In Fünfergruppen werden die Masken abgenommen, damit nie die ganze Klasse gleichzeitig ohne Masken dasitzt. „Das Wattestäbchen aus der Verpackung zu bekommen, ist der schwierigste Teil“, scherzt sie mit ihren Schülern.

Ohnehin herrscht Durchzug, die Klassenzimmertür und die Fenster sind offen. Viele sitzen mit Jacke da. Aber keiner murrt. Die, die nach vier langen Monaten ohne Präsenzunterricht wieder im Unterricht da sind, scheinen froh darüber. Jeder Schüler muss seine Probe selbst auf den Teststreifen auftragen, allerdings muss der vorne auf eine Liste neben den eigenen Namen gelegt werden.
Berchthold erklärt, dass man so verhindern will, dass die Schüler sich selbst outen müssen, wenn der Test positiv ausfällt. „Aber das ist natürlich Augenwischerei“ – denn wenn einer positiv ist, muss er sofort aus dem Unterricht und nach Hause. In der 7. Klasse ist keiner dabei.
Ein positiver Fall
Dann aber kommt eine nervös wirkende Lehrerin mit Handschuhen und einem Schnelltest zu Beck ins Büro. „Schauen Sie mal, ist der positiv“, fragt sie Beck. Tatsächlich zeigt der Streifen ein schwach positives Ergebnis. Die Klasse wird in die Pause geschickt, der Schüler zu Beck geschickt. Sie bleibt ruhig und gelassen, erklärt dem Schüler, dass er sich am besten noch heute einen Termin beim Testzentrum am Singener Klinikum besorgen soll, er bekommt eine Bescheinigung der Schule mit.
Der Betroffene wirkt ein wenig missmutig – muss er doch an seinem ersten Tag in Präsenzunterricht direkt wieder nach Hause. „Das ist natürlich Kacke“, sagt er ganz direkt. Besorgt wirkt er aber nicht. Beck muntert ihn auf: „Wenn du heute noch einen Termin kriegst, kannst du übermorgen vielleicht schon wieder in die Schule“, sagt sie. Die Entwicklung der PCR-Tests in Singen dauert eben mindestens einen Tag.
Dann greift sie persönlich zum Telefonhörer und ruft die Eltern an. Das Gespräch ist kurz, Beck wirkt ruhig und gelassen. „Ich glaube nicht, dass etwas dahinter ist, aber wir müssen reagieren“, erklärt sie am Telefon. „Es sind oft die Eltern, die unruhig werden“, erklärt sie – die Schüler gingen damit oft entspannter um.
Hohe ist froh, dass sie auf diese Weise wieder Präsenzunterricht geben kann. „Wir sind alle bereit, Opfer zu bringen für ein bisschen Normalität“, sagt sie. Die 29-Jährige sieht aber auch durchaus Pluspunkte bei der Lernplattform Moodle. Sie biete tolle Möglichkeiten, betont sie. Ihre Sechstklässler liebten die Videostunden und bei den Aufgaben hatte sie dadurch, dass ihre Schüler die Ergebnisse hochluden, einen viel besseren Einblick in die Entwicklung der einzelnen Schüler.
Den Präsenzunterricht ersetzen kann der Fernunterricht aber nicht. Immer wieder erkundigte sich die Lehrerin dabei auch nach dem Wohlbefinden der Schüler. Hohe sagt: „Die Schüler haben langsam einen Durchhänger“. Gerade die älteren Schüler ab der 7. Klasse, hätten es schwer gehabt wegen der langen Monate ohne Präsenzunterricht.
„Sonntage komplett vor dem PC“
Der Aufwand aber sei groß, gesteht auch Hohe. Sie arbeitet derzeit mit halbem Deputat, 13 Unterrichtsstunden. Sie kann die zusätzliche Arbeit, die durch die Vorbereitung der Aufgaben für den Klassenteil, der nicht am Präsenzunterricht teilnimmt, noch auf sich nehmen. „Aber die Sonntage sind mittlerweile komplett vor dem PC“, macht Hohe deutlich.
Wie Kollegen in Vollzeit das stemmen sollen, ist selbst ihr ein Rätsel. „Das wird nicht ohne Abstriche möglich sein.“ Das Kollegium aber helfe sich, wo man könne. „Wir unterstützen uns gegenseitig“, betont die junge Lehrerin. Trotzdem sagt sie: „Die Schulferien sind Rettungsinseln, die brauchen wir alle mehr denn je.“

Die Lehrerschaft sei insgesamt schon angespannt, die Kapazitäten ausgereizt, sagt Hohe. Ihren Eindruck teilt auch Direktorin Beck.
Die Lehrerin, deren Schüler positiv getestet wurde, steht wieder an ihrer Tür, diesmal fragt sie nach Desinfektionsmittel. Inzwischen werden die Tische in den Klassenzimmern nicht mehr mit Desinfektionsmittel geputzt, sondern mit Seifenwasser. Die Kosten für das Putzen sind einfach zu groß geworden. Beck sieht das ohnehin pragmatisch. Das Risiko, sich über Oberflächen anzustecken, ist deutlich geringer als durch Aerosole. Trotzdem gibt Beck ihr eine ihrer letzten Flaschen Desinfektionsmittel mit.
Schultag ohne Chaos
Das Fazit des ersten Schulmorgens in Präsenzunterricht ist überschaubar. Ein Schüler bekam Nasenbluten, weil er nicht richtig zugehört hatte und sich das Stäbchen zu tief in die Nase geschoben hatte. Einer musste nach Hause, weil er keine Einverständniserklärung dabei hatte. Und einer muss sich testen lassen. Wenn der tatsächlich eine beginnende Infektion haben sollte, hat sich der Aufwand Becks aber schon gelohnt. Denn dem Schüler ging es gut, er klagte über keinerlei Symptome. Er hätte unbemerkt Mitschüler anstecken können.

Beck organisiert schon die Tests für die kommende Woche, prüft den Bestand. Genügend Tests sind erst einmal da. Weitere 5,4 seien in Auftrag gegeben worden, die in den kommenden beiden Wochen an die Kommunen geliefert werden sollen, sagt ein Sprecher des Sozialministeriums auf Anfrage des SÜDKURIER.
Direktorin Beck plant vorsichtshalber mit einem Engpass. Dann muss sie sich wieder mit der Stadt kurzschließen, um an weitere Tests zu kommen. Ganz die Krisenmanagerin eben. Doch auch die resolut wirkende Frau scheint an ihre Grenzen zu kommen: „Es ist langsam ein Punkt erreicht, wo es nicht mehr geht“, sagt sie rundheraus. Das nächste Schuljahr liegt für sie noch in weiter Ferne. „Man denkt viel kurzfristiger“, sagt sie mit Blick auf die Pandemie. Ein Tag nach dem nächsten. Anders geht es nicht.
Langfristig aber wünscht sich Beck, dass Lehren aus der Pandemie gezogen werden, wie man den Unterricht verändern muss. Dafür bleibe derzeit, in Mitten des Krisenmanagements, aber schlicht und ergreifend keine Zeit.