Vormittags steht Donald Trump als Sieger der US-Wahl fest und abends zerbricht die Ampelkoalition – der 6. November 2024 wird wohl in die Geschichtsbücher eingehen, glaubt die Konstanzer SPD-Bundestagsabgeordnete Lina Seitzl.
„Es ist ja nicht das Ende der Regierung, aber es ist das Ende der Ampelregierung“, sagt sie am Tag danach. SPD und Grüne wollen zumindest bis zum Jahresende weitermachen, hatte Bundeskanzler Olaf Scholz gesagt, im neuen Jahr möchte er dann die Vertrauensfrage stellen, um den Weg für Neuwahlen freizumachen.
Sie hatte gehofft, man könnte den Koalitionsbruch vermeiden, sagt Seitzl. Die Verantwortung dafür sieht sie ganz klar bei der FDP und Lindner. Ähnlich formuliert es die SPD-Abgeordnete Rita Schwarzelühr-Sutter aus Waldshut, die auch Parlamentarische Staatssekretärin im Innenministerium ist: „Die FDP hatte wohl keine Kraft mehr für Lösungen.“
Brugger erinnert an die Jamaika-Verhandlungen von 2017
So sieht es auch die Grünen-Abgeordnete Agnieszka Brugger aus dem Wahlkreis Ravensburg: „Einmal mehr hat sich in dieser Koalition gezeigt – und nicht nur in dieser Koalition –, dass die FDP nicht willens und in der Lage ist, staatspolitische Verantwortung wahrzunehmen.“
Sie fühle sich an das Ende der Jamaika-Sondierung erinnert, „auch wenn die Situationen nicht wirklich vergleichbar sind, weil die Lage nun deutlich ernster ist.“ Damals wie heute sei ernsthaft und in staatspolitischer Verantwortung über schwierige Fragen gesprochen worden. „Und am Ende des Tages ist es immer Christian Lindner, der sich dieser Verantwortung entzieht und flieht.“
Es komme ja nicht von ungefähr, „dass alle Personen, die im Raum waren – damals die Union und die Grünen, heute die SPD und die Grünen – ganz klar sagen: Wir wären bereit gewesen, aber es ist Christian Lindner, der es nicht war“, so Brugger.
Jurisch hätte mehr von Scholz und Habeck erwartet
Ann-Veruschka Jurisch von der FDP sieht das naturgemäß anders. Sie hätte sich gewünscht, dass der Bundeskanzler auf den Vorschlag von Christian Lindner, gemeinsam und würdevoll Neuwahlen herbeizuführen, eingegangen wäre. „So kommt es jetzt zu einer Hängepartie. Das finde ich nicht okay für unser Land.“
Das angekündigte Entgegenkommen von Scholz und Wirtschaftsminister Habeck (Grüne) auf Lindners Vorschläge für eine andere Wirtschaftspolitik hält sie für unzureichend: „Das spielte in einer ganz anderen Liga.“
Aber, das ist ihr wichtig zu betonen: „Auf der Arbeitsebene hat das gut geklappt mit SPD und Grünen, gerade auch in meinem Bereich, der Migrationspolitik. Da haben wir auch unendlich viel mehr erreicht haben als in die Vorgängerregierungen.“
Vor allem mit den Kolleginnen und Kollegen aus der Region: „Weil wir uns gemeinsam für die Menschen bei uns einsetzen – da lasse ich auch nichts drauf kommen.“ Bloß weil es auf oberster Ebene nicht funktioniere, bedeute das nicht, dass es überall nicht funktioniert hätte, sagt Jurisch: „Es ist auch viel erreicht worden unter extrem schwierigen Bedingungen wie Corona und Krieg.“
„Entsetzt über die Brutalität“
Anders sieht das der Waldshuter CDU-Abgeordnete Felix Schreiner: „Die Ampelabgeordneten in unserer Region haben nichts erreicht. Kein einziges Projekt wurde vorangebracht. Deshalb ist das jetzt auch eine Befreiung für unsere Region.“ Er sei viel unterwegs in seinem Wahlkreis, mittlerweile sprächen ihn auf nahezu allen Terminen die Leute an und fragten, was da in Berlin los und wann es endlich zu Ende sei.
Schreiner sieht die Hauptverantwortung für das Ampel-Aus bei Bundeskanzler Scholz. „Am Ende führt er die Regierung. Und es hat sich mit Blick auf die Zustimmungswerte der Bundesregierung und persönlich für den Kanzler auch angedeutet. Scholz ist der unbeliebteste Kanzler in der Nachkriegsgeschichte. Das hat ja mit der Regierungsarbeit zu tun.“
Er sei „entsetzt über die Brutalität der Koalitionspartner untereinander und über die Lage, in die die drei Ampelparteien unser Land versetzt haben.“ Die Welt schaue gerade auf Deutschland. „Das muss jedem bewusst sein“, so Schreiner mit Bezug auf die internationale Berichterstattung. Trotz der alles bestimmenden US-Wahl sieht etwa die „New York Times“ prominent auf ihrer Seite „die Bundesregierung schwanken“.
Hängepartie bis zu Neuwahlen hält Jung für Kalkül
Schreiners Konstanzer Parteifreund Andreas Jung, stellvertretender Vorsitzender der CDU, möchte die Rolle des Schiedsrichters nicht übernehmen: „Man hat ja gesehen, wie die sich gegenseitig versuchen, den Schwarzen Peter zuzuschieben. Das ist für uns nicht relevant.“
Jung sieht in der Ankündigung des Kanzlers, erst im Januar die Vertrauensfrage zu stellen, politisches Kalkül. Die grundgesetzlichen Fristen dafür reichten aus, schließlich stammten sie aus einer Zeit ohne digitale Kommunikation, als solche Nachrichten also noch deutlich langsamer verbreitet wurden, so Jung.
Für einen sofortigen Wahlkampf sehen sich übrigens alle gewappnet. So überrascht ist dann doch niemand. Jung: „Wir sind personell und inhaltlich aufgestellt. Wir haben mit Friedrich Merz einen Kanzlerkandidaten, der unser Vertrauen hat und breite Unterstützung in CDU und CSU genießt.“
SPD-Frau Seitzl sagt an die Adresse von Merz: „Die Vertrauensfrage, das ist nochmal wichtig zu betonen, die stellt der Bundeskanzler – und nicht der Oppositionsführer.“ Im Wahlkampf sieht sie für den regierungserfahrenen Scholz Vorteile gegenüber Merz, „der auch rechts rumwildert und keine Regierungserfahrung hat.“
Keine Illusionen und ein wenig Beruhigung
Der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei, sieht seine Partei auf einem guten Weg, auch wenn die Herausforderungen riesig seien und man in den Umfragen noch nicht da sei, wo man gerne hin möchte: „Wir wollen zu Werten kommen, die es ermöglichen, eine stabile, starke Bundesregierung für das Land zu bilden.“ In den aktuellsten, vor dem Ampel-Aus erhobenen Umfragen, liegt die CDU zwischen 32 und 36 Prozent.
An den Aussagen der Bundestagsabgeordneten aus der Region lässt sich auch ablesen: SPD und Grüne setzen – zumindest zur Stunde – auf eine kooperative CDU. Die will davon wenig wissen, sondern schnellstmögliche Neuwahlen.
Bleiben also Schäden? Was ist die Lehre aus der gescheiterten Koalition? Die Verantwortung, sich dem Dialog zu stellen und konstruktiv nach Lösungen zu suchen, schreibt Schwarzelühr-Sutter, werde auch künftig von allen Partnern gefordert sein. „Eine erfolgreiche Koalition muss eine Streitkultur pflegen, die darauf abzielt, Ergebnisse für die Menschen zu erzielen und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger nicht zu gefährden.“
Aber, so viel Beruhigung darf wohl sein – Frei sieht keine bleibenden Schäden für künftige Koalitionen: „Es wird nach wie vor mit einer hohen Professionalität gearbeitet.“ Es sei vollkommen klar, dass seit dem Abend des 6. Novembers jeder auch den eigenen Wahlkampf im Kopf hat – das sei niemandem vorzuwerfen. Erde, sagt Thorsten Frei, werde da jedenfalls nicht verbrannt.