Der Krieg ist etwa 2000 Kilometer entfernt. So viele Kilometer trennen Kiew von Freiburg. Von dort sind am Donnerstag, als Russlands Präsident Wladimir Putin die Invasion in die Ukraine befahl, geflohen. Als die ersten Bomben fielen, unweit des Kindesheims Vaterhaus, war klar: Die Kinder müssen hier weg. Raus aus der Hauptstadt Kiews, die zum Ziel des Kreml-Chefs wurde, weg von den Bomben, den Soldaten, die auf dem Vormarsch sind.

Über drei Tage dauert die Flucht von Kiew nach Freiburg. Am vergangenen Wochenende kamen die 157 Kinder und Jugendliche und ihre Betreuer in der Stadt an. Nach einer Fahrt, die sie schwer traumatisiert haben dürfte. Als Raketen nahe der Autobahn einschlugen, auf der vier große Busse ohne Licht fuhren, begleitet von Polizeikonvois, die mit Fernlicht fuhren, um die Bomben im Zweifel auf sich zu lenken.

An diesem Donnerstag, eine Woche nach Kriegsbeginn, scheint die Sonne in Freiburg. Der Frühling kündigt sich an, auf dem Marktplatz werden schon die ersten Narzissen verkauft. Menschen schlendern durch die Einkaufsstraßen, die Straßenbahn bimmelt, als sie sich ihren Weg durch die zunehmend bevölkerte Innenstadt bahnt. Am Rathaus weht die ukrainische Flagge. Der Kontrast könnte kaum größer sein.

Im Garten des Rathauses versucht die Stadt corona-konform dem großen bundesweiten Medieninteresse zu entsprechen – an der spektakulären Flucht, die aus Kiew gelang.

Von den Eltern getrennt

Oleksandr Bohdanov ist einer der Jugendlichen, die die Flucht miterlebten. Seine Eltern blieben in der Ukraine zurück, erzählt er, gemeinsam mit seiner nicht einmal zwei Jahre alten Schwester. Der 17-Jährige und seine beiden neun und elf Jahre alten Schwestern wurden auf die Flucht geschickt.

Die Erinnerung an die Flucht lässt den Jugendlichen älter wirken, als er ist. Ernst und mit ruhiger, leiser Stimme spricht er über die Nacht, die sein Leben veränderte. Mitten in der Nacht seien sie geweckt worden, sie mussten fliehen. „Als die Bomben fielen, habe ich immer zum Himmel geschaut“, sagte er. Der Abschied von seiner Familie sei schwer gewesen. „Wir müssen jetzt stark sein für meine Eltern“, sagt er.

Inzwischen wollen auch seine Eltern versuchen, zu fliehen – nach Schweden. Wann die Familie wieder vereint sein wird, weiß er nicht. Seine Mutter habe ihm versprochen, dass sie sich spätestens in einem Monat wiedersehen, sagt Bohdanov. Auf den Schultern des Jugendlichen aber lastet die Verantwortung für seien jüngeren Geschwister – und die Ungewissheit über das Schicksal seiner Eltern und der jüngsten Schwester.

Roman Korniiko ist der Vorsitzende des Vaterhauses, einem Kinderheim in Kiew, in dessen Nähe Bomben einschlugen. Die Kinder wurden nach ...
Roman Korniiko ist der Vorsitzende des Vaterhauses, einem Kinderheim in Kiew, in dessen Nähe Bomben einschlugen. Die Kinder wurden nach Freiburg gebracht. | Bild: Moll, Mirjam

Roman Korniiko weiß, was in ihm vorgeht. Der Vorsitzende des Kiewer Kinderheims Vaterhaus kennt jedes einzelne der Schicksale seiner Schützlinge: „Diese Kinder wurden in ihrem Leben schon oft verraten“, sagt Korniiko. Als in der Nähe Bomben detonierten, hätten manche von ihnen uriniert. Still und ohne zu weinen. Die Angst, den Boden unter den Füßen zu verlieren, ließ sie erstarren.

Sichtlich angefasst nimmt der Mann mit der Glatze und dem grauen Bart schließlich seine Mütze ab. Er sei so dankbar, betont er immer wieder, für all die Hilfe. So dankbar, dass die Kinder hierher kommen konnten. Die Tränen stehen dem Mann inzwischen selbst in den Augen: „Ich hoffe, dass eure Kinder nie erfahren, was es bedeutet, wenn Bomben fallen.“

Wie eine Entführung

Iryna Chebotariova ist Erzieherin im Kinderheim Vaterhaus in Kiew. Die Erlebnisse der Flucht und des plöltzlichen Krieges muss sie noch ...
Iryna Chebotariova ist Erzieherin im Kinderheim Vaterhaus in Kiew. Die Erlebnisse der Flucht und des plöltzlichen Krieges muss sie noch verarbeiten. | Bild: Moll, Mirjam

„Für die Kinder war es wie eine Entführung“, glaubt Erzieherin Iryna Chebotariova, die die Kinder begleitet hat. Für die Kinder sei es die erste Reise außer Landes gewesen, die meisten wussten nicht genau, wo Deutschland liegt, wo die Stadt Freiburg.

Sie sind durchgefahren mit den Kindern, zehn, zwölf Stunden am Stück, sie haben nur wenig zu trinken bekommen, damit sie nicht so oft anhalten mussten, erzählt die Frau, sichtlich bewegt von den Erinnerungen an die Flucht. „Als die Kinder hier ankamen“, erzählt Chebotariova, „haben sie viel getrunken. Jetzt können sie trinken, so viel sie wollen.“

OB Horn über die Rettung Video: Mirjam Moll

Die Fahrt durch die Dunkelheit war auch für Valerij Mironjuk ein Wagnis. Der Busunternehmer organisierte Fahrer, bat sie, die Kinder im Heim abzuholen und in die Ungewissheit aufzubrechen. Er habe die Polizei angerufen und um eine Eskorte gebeten. Die Fahrzeuge begleiteten die Busse, bahnten ihnen einen Weg aus der Stadt, aus der inzwischen viele zu flüchten versuchten. „Als wir aus Kiew rausgefahren sind, fielen dort schon die Bomben.“

Ohne ihn wäre die Flucht der Kinder nicht möglich gewesen: Valerij Mironjuk hat kurzerhand Busse und Fahrer organisiert, um die Kinder ...
Ohne ihn wäre die Flucht der Kinder nicht möglich gewesen: Valerij Mironjuk hat kurzerhand Busse und Fahrer organisiert, um die Kinder aus dem Heim zu retten. Und er hilft weiter. | Bild: Moll, Mirjam

Ohne diesen Mann, ohne seine Busse, hätten die Kinder nicht fliehen können. Jetzt sind die Busse voll beladen mit Hilfsgütern wieder in der Ukraine angekommen. Von dort sollen sie weitere Menschen außer Landes bringen. „Solange wir nicht bombardiert werden, können wir Menschen retten“, sagt der Mann. Er wirkt gefasst. Er ist keiner, der für seine Taten gelobt werden will, keiner, der um Bewunderung bittet. Mironjuk will weiter helfen. 1600 Menschen haben seine Busse schon außer Landes gebracht, erzählt er.

Für die Kinder vom Vaterhaus ist die Flucht gelungen. Doch die Kinder sind traumatisiert „Sie brauchen eine Therapie der Liebe“, sagt Erzieherin Chebotariova. Die Tränen stehen ihr in den Augen, die Erinnerung an die Flucht belasten auch sie. „Es ist nichts geblieben, was mir lieb war“, sagt sie. Aber „Freiburg hat uns umarmt“, schließt sie. „Ich werde für euch beten, bis an mein Lebensende.“

Spontane Rettungsaktion

Zustande kam die spektakuläre Rettungsaktion durch die Evangelische Stadtmission Freiburg. Sie betreut seit 30 Jahren das Kinderheim in Kiew, schickt monatlich Hilfsgüter. „Wir wussten, mir müssen handeln“, sagt die Vorsitzende der Stadtmission, Katja Potzies, dem SÜDKURIER. Sie brachte alles ins Rollen. „Es geht mir immer noch sehr nah“, sagt sie über die gelungene Evakuierung des Kinderheims, aber auch die Solidarität und Unterstützung, die sie und die Kinder seit ihrer Ankunft erfahren haben. „Wir sind sehr erleichtert“, dass die Kinder nun in Sicherheit seien.

Katja Potzies, Vorsitzende der Evangelischen Stadtmission Freiburg, hat entschieden, die Kinder des Kinderheims aus Kiew nach Freiburg ...
Katja Potzies, Vorsitzende der Evangelischen Stadtmission Freiburg, hat entschieden, die Kinder des Kinderheims aus Kiew nach Freiburg zu holen. | Bild: Moll, Mirjam
„Ich wünsche mir, dass wir ihnen eine Heimat bieten können, ein neues Zuhause, in dem sie sich geborgen fühlen.“
Katja Potzies, Vorsitzende der Evangelischen Stadtmission Freiburg

Die Rettung und Ankunft in Freiburg könne aber nur „ein erster Schritt“ sein. „Ich wünsche mir, dass wir ihnen eine Heimat bieten können, ein neues Zuhause, in dem sie sich geborgen fühlen“, sagt Potzies.

Zunächst müsse es aber darum gehen, den Kindern beim Überwinden ihrer Traumata zu helfen, betont Potzies. „Das sind Kinder, die schon viel mitgemacht haben“, sagt sie dem SÜDKURIER. Kinder, die Gewalt erfahren haben in ihren Familien – oder ihre Familien verloren haben. Kinder, die Halt brauchen.

Wie die Stadtmission die Rettung plante Video: Moll, Mirjam
„Wir treffen uns hier in dunklen Tagen mit Berichten aus der Ukraine, die uns fassungslos machen.“
Martin Horn, Oberbürgermeister Freiburgs

„Wir sind dankbar, dass es gelungen ist, diese Kinder hierherzubringen“, sagt auch Oberbürgermeister Martin Horn. Jetzt steht die Stadt vor der Aufgabe, eine langfristige Unterkunft für die Kinder zu finden. Zunächst konnten sie in einer Jugendherberge unterkommen, doch für die nächsten Wochen muss eine andere Unterkunft her. Eine mittelfristige Alternative zur Jugendherberge habe man schon gefunden, sagt der Erste Bürgermeister der Stadt, Ulrich von Kirchbach.

Unterbringungen bei hiesigen Familien sei hingegen nicht geplant, man wolle die Kinder möglichst in ihren gewohnten Gruppen belassen, erklärte er. Zudem sollen sie Schulunterricht bekommen. Die in Freiburg ansässige deutsch-ukrainische Gesellschaft habe bereits ihre Unterstützung angeboten, die jungen Flüchtlinge sollen deutsch lernen. Es sind erste Schritte hin zu einem neuen Alltag im Leben zutiefst erschütterter Kinder.